Zahlungsunfähig oder (noch) nicht? – eine Frage der Methode

Bundesgerichtshof ermöglicht vermeintlich vereinfachte Methode zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit

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Die Zahlungsunfähigkeit, also wenn ein Unternehmen seine Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen kann, ist der mit Abstand häufigste Grund für eine Insolvenz. Dieser Beitrag beschäftigt sich damit, welche Bedeutung die Antwort auf die Frage „Zahlungsunfähig oder (noch) nicht?“ für Geschäftsführer und Vorstände hat und mit welchen Methoden sie sich berechnen lässt.  

Energie, Halbleiter, Lieferketten, drei von mehreren Themen, die derzeit für viele Unternehmen nur eines bedeuten: Krise, Krise, Krise. Die Krise ist für viele Unternehmen inzwischen leider zum Normalzustand geworden und ein Ende ist, zumindest derzeit, nicht absehbar. Eine Folge des permanenten Krisenmodus ist, dass für viele Unternehmen zukünftige Geschäfte nur noch eingeschränkt und über einen weitaus kürzeren Zeitraum als bislang planbar sind. Damit ist aber auch die finanzielle Planbarkeit für die Geschäftsleitung mitunter nur noch bedingt gegeben, weshalb sich Geschäftsführer und Vorstände durchaus mit der Antwort auf die Frage „Ist mein Unternehmen noch zahlungsfähig oder schon nicht mehr?“ beschäftigen müssen.

Insolvenzgrund und Insolvenzantragspflicht

Fakt ist: Von der Antwort auf diese Frage hängt für ein Unternehmen und die Geschäftsleitung viel ab. Denn wenn ein Unternehmen zahlungsunfähig ist, es also seine Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen kann, liegt der Insolvenzgrund „Zahlungsunfähigkeit“ vor. Damit besteht dann auch grundsätzlich eine Insolvenzantragspflicht. Die Zahlungsunfähigkeit ist bislang der mit Abstand häufigste Grund für Insolvenzanträge. Wichtig: An der Insolvenzantragspflicht bei Zahlungsunfähigkeit ändert auch das am 9. November 2022 in Kraft getretene Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen, kurz SanInsKG, nichts (siehe unten: Informationskasten “Änderungen im Insolvenzrecht”).

Im Zusammenhang mit der Insolvenzantragspflicht bei Zahlungsunfähigkeit ist für die Verantwortlichen in Unternehmen besonders der Zeitpunkt relevant, ab dem die Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist. Denn unter Umständen haften sie für Zahlungen nach diesem Zeitpunkt, und eventuell liegt sogar eine strafbare Insolvenzverschleppung vor. Doch wann ist ein Unternehmen eigentlich zahlungsunfähig?

Die Antwort auf diese Frage scheint auf den ersten Blick relativ einfach: Ein Unternehmen ist zahlungsunfähig, wenn das Unternehmen 10% seiner Verbindlichkeiten nicht mehr bezahlen kann, die in Addition am Tag der Berechnung (Stichtag) fällig sind und in den nächsten drei Wochen fällig werden. Da allerdings bei der Ermittlung des Ergebnisses „Zahlungsunfähig oder (noch) nicht?“ zahlreiche Faktoren eine Rolle spielen, ist es durchaus nicht ganz so einfach zu erkennen und festzustellen, ob ein Unternehmen bereits zahlungsunfähig oder noch zahlungsfähig ist.

Vermeintlich vereinfacht

Da passt es doch gut, dass der Bundesgerichtshof vor Kurzem in einer Leitsatzentscheidung eine vermeintlich vereinfachte Methode zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit ermöglicht hat. Das „vermeintlich“ ist in diesem Fall von großer Bedeutung, da die neue Methode für Unternehmen durchaus mit Risiken verbunden ist.

Doch zunächst zurück zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit. Ob ein Unternehmen zahlungsunfähig ist und – wenn ja – ab wann die Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, lässt sich mit einer sogenannten erweiterten Liquiditätsbilanz feststellen, die als Methode zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit etabliert ist. Bei der Liquiditätsbilanz wird in zwei Schritten vorgegangen:

  • Zu einem Stichtag werden die vorhandenen Geldmittel eines Unternehmens den zu diesem Stichtag fälligen Verbindlichkeiten gegenübergestellt.
  • Decken die Geldmittel nur 90% oder weniger der Verbindlichkeiten, muss in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob diese Unterdeckung innerhalb der folgenden drei Wochen beseitigt werden kann. Dazu werden die Geldmittel, die dem Unternehmen aller Voraussicht nach in diesen drei Wochen zufließen und die Verbindlichkeiten, die in diesem Zeitraum fällig werden, jeweils hinzugerechnet. Bleibt es auch dann bei der Unterdeckung von 10% oder mehr, ist das Unternehmen zahlungsunfähig.

Neben diesen Berechnungsansatz hat der Bundesgerichtshof jetzt einen weiteren gestellt:

  • Dabei können Unternehmen an drei Stichtagen innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen jeweils einen vereinfachten Liquiditätsstatus erstellen. In diesem Liquiditätsstatus werden lediglich die zum jeweiligen Stichtag vorhandenen Geldmittel den zum Stichtag fälligen Verbindlichkeiten gegenüberstellt. Wenn an diesen drei Stichtagen jeweils eine Liquiditätslücke von 10% oder mehr vorliegt, ist das Unternehmen rückwirkend ab dem ersten Stichtag zahlungsunfähig.

Risiko verkürzter Berechnungen

Das Risiko der neuen Methode liegt darin, dass sie tendenziell zu verkürzten Berechnungen führt. Diese genügen nicht der Sorgfaltspflicht und lassen bei laufender Geschäftstätigkeit die in die Zukunft gerichteten Finanzpläne als Instrumente des in der Krise gebotenen verschärften Controllings außer Acht. Wenn ein Unternehmen über eine ordnungsgemäße Buchführung verfügt, sollten die Verantwortlichen daher weiterhin die erweiterte Liquiditätsbilanz einsetzen, um bei der Antwort auf die Frage „Zahlungsunfähig oder (noch) nicht?“ auf der sicheren Seite zu sein. Denn die drei aneinandergereihten Stichtagsberechnungen der neuen Methode können saisonale Schwankungen sowie Zahlungsstockungen nur bedingt abbilden. Bislang ist jedoch gerichtlich noch nicht entschieden, welche Methode angewendet werden muss, wenn beide zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

StaRUG und Schutzschirmverfahren

Die Antwort auf die Frage „Ist die Zahlungsunfähigkeit in meinem Unternehmen bereits eingetreten?“ ist aber nicht nur mit dem Blick auf eine mögliche Haftung, sondern auch bei einer vorinsolvenzlichen StaRUG-Restrukturierung und bei einem Schutzschirmverfahren entscheidend. Beide Verfahren können Unternehmen nur dann beantragen, wenn ihnen die Zahlungsunfähigkeit nur droht, sie aber noch nicht eingetreten ist. Auch hier ist es ratsam, auf die etablierte Methode der erweiterten Liquiditätsbilanz zu setzen, um auf der sicheren Seite zu sein und die dynamische Liquiditätsentwicklung von Unternehmen realitätsnah abbilden zu können. Denn mit der neuen Berechnungsmethode lässt sich die Abgrenzung zwischen drohender und eingetretener Zahlungsunfähigkeit nicht so trennscharf ermitteln, wie das mit der erweiterten Liquiditätsbilanz möglich ist.

Keine Zeit verlieren!

Unabhängig davon ob ein Unternehmen sich über eine StaRUG-Restrukturierung, ein Eigenverwaltungs-,  ein Schutzschirm- oder „ein klassisches“ Insolvenzverfahren sanieren will, sollten die Verantwortlichen eine Restrukturierung oder Sanierung so früh wie möglich angehen – also, wenn sie noch Reserven haben – und nicht abwarten und ihre Hoffnung auf eine baldige Besserung der wirtschaftlichen Gesamtsituation zu setzen. Es bestehen dann bessere Chancen auf einen erfolgreichen und nachhaltigen Ausgang.

Änderungen im Insolvenzrecht

Vor dem Hintergrund der zahlreichen Herausforderungen, vor denen Unternehmen derzeit stehen, hat der Gesetzgeber zum 9. November 2022 Erleichterungen bei der Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung und beim Zugang zu Sanierungsverfahren geschaffen. Mit dem Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen, kurz SanInsKG, soll Unternehmen in der aktuellen Energie- und Wirtschaftskrise mehr Luft verschafft werden. Das Gesetz sieht gleich mehrere Änderungen vor:

  • Der Zeitraum für die insolvenzrechtliche Fortführungsprognose wird von zwölf auf vier Monate herabgesetzt Auf diese Weise wird die Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung gelockert. Die Regelung gilt auch für Unternehmen, bei denen bereits vor dem Inkrafttreten des SanInsKG eine Überschuldung vorlag, aber der für eine rechtzeitige Insolvenzantragstellung maßgebliche Zeitpunkt noch nicht verstrichen ist. Entscheidend ist dafür der Zeitpunkt, zu dem das SanInsKG in Kraft getreten ist. Dies ist am 9. November 2022 erfolgt, nachdem das Gesetz am 8.11. im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde.
  • Wichtig ist aber: An der Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit – bislang mit Abstand der häufigste Grund für Unternehmensinsolvenzen – ändert das SanInsKG gar nichts.
  • Die Höchstfrist für die Stellung eines Insolvenzantrags wegen Überschuldung wird von sechs auf acht Wochen erhöht. So soll Unternehmen etwas mehr Zeit für den Versuch einer außerinsolvenzlichen Sanierung (StaRUG) verschafft werden. Aber: Insolvenzanträge müssen weiterhin innerhalb der vorgegebenen Frist gestellt werden. Die Frist darf nicht ausgeschöpft werden, wenn zu einem früheren Zeitpunkt bereits feststeht, dass eine nachhaltige Beseitigung der Überschuldung nicht erwartet werden kann.
  • Die Regelungen des SanInsKG gelten bis zum 31. Dezember 2023. Doch bereits ab dem 1. September 2023 kann der ursprüngliche Prognosezeitraum von zwölf Monaten wieder relevant werden. Wenn für ein Unternehmen weniger als vier Monate vor dem Jahresende 2023 feststeht, dass es unmittelbar nach Ablauf der vorübergehenden Änderungen unter dem dann wieder maßgeblichen Überschuldungsbegriff überschuldet sein wird, kann dieser Befund für die Fortführungsprognose relevant sein.
  • Angepasst wurden auch die Planungszeiträume für Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsvorhaben. Unternehmen mussten bei solchen Vorhaben bislang Finanzpläne vorlegen, aus denen sich für einen Zeitraum von sechs Monaten ergibt, dass das Unternehmen durchfinanziert ist. Dabei müssen Einnahmen und Ausgaben des laufenden Geschäftsbetriebes genauso wie die Sanierungs- und Verfahrenskosten berücksichtigt werden. Die Planungszeiträume für die Erstellung von Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsplanungen sind mit dem SanInsKG bis zum 31. Dezember 2023 von sechs auf vier Monate herabgesetzt worden.
Autorenprofil
Alexander Eggen

Alexander Eggen ist Rechtsanwalt bei Schultze & Braun. Er wird in der Rhein-Main-Region an unterschiedlichen Gerichten als Insolvenzverwalter bestellt. Eines seiner Spezialgebiete ist die Unternehmenssanierung.

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