Warten auf die Insolvenzwelle

Nur wenige profitieren von der Verlängerung des Schutzes vor Insolvenz.
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Seit mehr als zwei Jahren ist die weltweite Wirtschaft im Griff der Coronapandemie. Geschlossene Geschäfte, eingeschränkte Produktion und gestörte Lieferketten waren die Folge. Eigentlich würde dies bedeuten, dass es eine hohe Zahl von Unternehmensinsolvenzen gibt. Stattdessen sind in dieser Zeit die Fälle konstant gesunken. Was sagen Restrukturierungsprofis und Insolvenzverwalter zu dieser paradoxen Entwicklung?

Die letzten amtlichen Zahlen der Insolvenzen in Deutschland stammen aus dem November 2021. Danach waren die Fälle gegenüber dem Vorjahresmonat leicht angestiegen – im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019 betrug der Rückgang aber stolze 22,6%. Von einer Insolvenzwelle also keine Spur. Auch für die kommenden Monate wurde bisher keine starke Änderung dieses Trends erwartet: „Die Zahl an insolventen Personen- und Kapitalgesellschaften wird auch in den nächsten Monaten niedrig sein“, kommentiert die aktuellen Zahlen Steffen Müller, der am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) die Abteilung Strukturwandel und Produktivität und die dort angesiedelte Insolvenzforschung leitet. Einschränkend muss aber gesagt werden, dass die Einschätzungen aus der Zeit vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs stammen. Das gilt auch für die Stimmen, die wir bei Branchenexperten gesammelt haben.

Staatliche Hilfen verhinderten Insolvenzen

Die wesentliche Ursache für die niedrigen Zahlen bei den Insolvenzen dürften die umfangreichen staatlichen Hilfen zur Bewältigung der Coronapandemie sein. In erster Linie gilt das für den erleichterten Zugang zur Kurzarbeit. Vor der Coronakrise lag die Zahl der Kurzarbeiter bei 134.000 und im April 2020 hatte sie dann den Rekordwert von sechs Millionen erreicht. Die Bundesregierung hatte vor einigen Wochen verkündet, dass die Kurzarbeiterregelungen bis zum 30. Juni 2022 verlängert werden sollen. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die angesichts des Kriegs in der Ukraine eine weitere Verlängerung fordern.

Kein Tsunami erwartet

Jan Hendrik Groß
Jan-Hendrik Groß

Aber wie wird es in diesem Jahr mit den Fallzahlen bei den Insolvenzen weitergehen? Vor der Ukrainekrise war die Prognose für viele Experten klar: „Es wird kein Tsunami kommen. Es ist so viel billiges Geld im Markt, dass viele Probleme einfach zugedeckt werden. Ich rechne eher mit einem schleichenden Siechtum“, sagt Jan Hendrik Groß, Partner bei Ebner Stolz in Köln. „Es bleibt aber abzuwarten, welche Auswirkungen der Krieg in der Ukraine auf die Wirtschaft haben wird. Wir sehen schon jetzt dramatisch gestiegene Energiekosten. Und dies in einem Umfang, dass für viele Unternehmen eine profitable Produktion nicht mehr möglich ist. Das könnte durchaus eine Schockwelle auslösen“, so Groß.

Prof. Lucas Flöther
Prof. Lucas Flöther

Einen Tsunami erwartet auch Prof. Dr. Lucas F. Flöther von der Kanzlei Flöther & Wissing und Sprecher des Gravenbrucher Kreises, nicht. Aber er wünscht sich eine Selbstreinigung in der deutschen Wirtschaft und sieht schon jetzt einen Anstieg der Fälle:Die Insolvenzen steigen doch bereits jetzt. Die Fallzahlen werden stufenförmig zunehmen, in mehreren Etappen. Vielleicht wird es auch viele kleine Wellen geben. Das muss so sein, wir brauchen eine Bereinigung, sonst nehmen die Unternehmenszombies überhand und schädigen den Wettbewerb noch weiter. Schon jetzt ist es so, dass viele profitable Unternehmen keine qualifizierten Mitarbeiter finden, weil diese in Unternehmen gebunden sind, die nur durch staatliche Fördermittel künstlich am Leben gehalten werden.“

Insolvenzfälle steigen bereits an

Einen spürbaren Anstieg hat auch Wolfram Lenzen, Partner bei Falkensteg, inzwischen bemerkt: „Wir sehen bei uns in den ersten Wochen des Jahres 2022 ein deutliches Anziehen der Insolvenz- und Restrukturierungsfälle. Getrieben sind diese Fälle insbesondere von der erheblichen Steigerung der Energiekosten, Frachtkosten und Kosten für Vormaterial“.

Wolfram Lenzen
Wolfram Lenzen

Als Grund sieht er, dass durch diese bereits im letzten Jahr entstandenen Belastungsfaktoren die Liquiditätspuffer in den Unternehmen häufig aufgebraucht seien. Die vielfach angestrebten Preiserhöhungen im Verkaufsbereich könnten ihre Wirkung erst mit Zeitverzug entwickeln. In der Folge würden die betroffenen Unternehmen nun in Liquiditätsunterdeckungen und häufig in eine Insolvenzantragspflicht laufen. „Wie stark die Insolvenzzahlen ansteigen, hängt im Wesentlichen davon ab, wie lange die genannten Belastungsfaktoren anhalten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass wir 2022 ein höheres Insolvenzgeschehen sehen werden, als in den Vorjahren. Von einer Welle sind wir jedoch weit entfernt“, fährt Lenzen fort.

Wellen in bestimmten Branchen möglich

Bestimmte Branchen hatten schon im Vorfeld der Coronapandemie stark mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Dazu gehört unter anderem auch der Automotive-Bereich, der insbesondere in Deutschland durch die sogenannte Dieselkrise und den Trend zur Elektromobilität belastet war. Im Insolvenz-Report „5 nach 12“ von Falkensteg waren die Zulieferer im Automotivebereich Spitzenreiter bei den Fällen von Großinsolvenzen im vierten Quartal. Zudem sei die Hälfte der Jahresinsolvenzen in diesem Sektor in die Monate Oktober bis Dezember gefallen, während alle anderen Branchen dagegen Rückgänge verzeichneten.

Mit steigenden Fällen in bestimmten Wirtschaftssektoren rechnet auch Armin Bratz von der Hanse Consulting: „Ich rechne nicht mit einer allgemeinen Insolvenzwelle. Aber es sind mehr Insolvenzen in einzelnen Branchen möglich wie zum Beispiel im stationären Einzelhandel, im Gastgewerbe oder auch bei gewerblichen Büroimmobilien“. Ursache sei dann, dass die Unternehmen die Transformation ihrer Geschäftsmodelle nicht rechtzeitig realisieren können. Zumindest steigende Zahlen bei Restrukturierungen und Insolvenzen erwartet auch Prof. Georg Streit von der Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek. Er beobachtet auch bereits erste Krisenfälle im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine aufgrund reißender Lieferketten im Automotivebereich und aufgrund stark steigender Benzinpreise, etwa bei Busunternehmen. Matthias Dieckmann von der Kanzlei dieckmann kuhne raith sieht aktuell den Ball im Spielfeld der Politik. Nach seiner Meinung können dort wichtige Entscheidungen getroffen werden, ob es eine Insolvenzwelle gibt und wie hoch sie möglicherweise ausfällt. Dies hänge auch unmittelbar mit der Frage zusammen, wie es mit den verschiedenen Hilfsprogrammen weitergeht.

Energieversorger mit Problemen

Bereits große wirtschaftliche Schwierigkeiten haben sich Ende des Jahres bei vielen Energieversorgern in Deutschland ergeben. Rund 15 Insolvenzen wurden in diesem Bereich angemeldet. Als Ursache galt der hohe Anstieg der Kosten auf dem kurzfristigen Spotmarkt für Erdgas. In der Folge wirkte sich diese Preisexplosion um teilweise bis zu 400% auch auf die Einkaufspreise für Strom aus. Diese stiegen dann an einigen Tagen um das Dreifache. Vor allem die Unternehmen, die ihre Energie – egal ob Strom oder Gas – kurzfristig bezogen haben, wurden durch die unerwartete Preisentwicklung in Schwierigkeiten gebracht. Der aktuelle Krieg in der Ukraine dürfte für eine weitere Verschärfung der Situation sorgen. Steigende Ausgaben für Energie bedrohen inzwischen auch Unternehmen, deren Produktion sehr energieintensiv ist.

Hilfsprogramme sind ein „süßes Gift“

„Die staatlichen Hilfsmaßnahmen sind umfassend und es ist viel Liquidität im Markt, so dass selbst Unternehmen mit echtem Restrukturierungsbedarf häufig nicht über Liquiditätsprobleme berichten“, sagt dazu Prof. Streit zu den Unterstützungsprogrammen. Nach seiner Einschätzung gibt es tatsächlich eine Fehlentwicklung, die etwas drastisch, aber nicht ohne gewisse Berechtigung, als „Zombiefizierung“ von Teilen der Wirtschaft bezeichnet werde.

christoph-niering

Dem pflichtet Dr. Christoph Niering von der Kanzlei Niering Stock Tömp Rechtsanwälte und Vorsitzender des Verbands der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), bei: „Wir haben weiterhin ein staatlich gelenktes Insolvenzgeschehen. Die Verlängerung der Überbrückungshilfe IV und das Kurzarbeitergeld werden in jedem Fall noch einige Zeit für geringe Insolvenzzahlen sorgen. Fraglich ist vor allem, ob und wie Kunden, Verbraucher und Patienten nach uneingeschränkter Lockerung der Coronamaßnahmen wieder zu altem Konsum- und Sozialverhalten zurückfinden.“ Prof. Flöther glaubt eher an „selektive Maßnahmen“ und weniger Programme mit der „Gießkanne“.

Fuß von der Bremse zu nehmen fällt schwer

Wie soll es aber nun weitergehen? Dazu meint Dr. Niering: „Wie schon häufiger von mir betont, ist das ´auf die Bremse treten´ zu Beginn der Pandemie in Form der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, großer staatlicher Hilfsmaßnahmen etc. vergleichsweise einfach und schnell umzusetzen gewesen. Den Fuß jetzt wieder ´von der Bremse´ zu nehmen ist ungleich schwerer, da nicht nur schwer kalkulierbar, sondern auch den betroffenen Branchen und vor allem den betroffenen Mitarbeitern zum Teil schwer zu vermitteln.

Kostensteigerungen machen Probleme

Letztendlich habe die Pandemie in vielen Bereichen strukturelle Schwächen einzelner Geschäftsmodelle oder ganzer Branchen verdeckt. Diese strukturellen Schwächen und sich daraus ergebene Insolvenzfolgen würden dann mit Wegfall der staatlichen Maßnahmen zutage treten. Sie seien also nicht zwingend pandemiebedingt, sondern deren Zutagetreten hat sich nur durch die Pandemie verzögert. Das sieht auch Wolfram Lenzen von Falkensteg ähnlich, denn die aktuelle wirtschaftliche Bedrohung für Unternehmen ginge vielmehr von erheblichen Kostensteigerungen aus. Sollten diese längerfristig anhalten, würden die im Jahr 2022 auslaufenden Hilfsprogramme nicht ausreichend sein. „Ob es für die besagten Belastungen dann weitere Hilfsprogramme gibt, ist eher fraglich“, fügt er an.

Die kommenden Tage und Wochen nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges werden nun zeigen, wie die Auswirkungen auf die Wirtschaft in Deutschland sind. Und dies könnte auch wieder Rufe nach staatlichen Unterstützungsprogrammen mit sich bringen. Erste Ankündigungen von Hilfen gibt es bereits.

Autorenprofil

Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.

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