Die Zahlen sind allgemein bekannt: Bis 2026 stehen in deutschen Unternehmen laut KfW etwa 600.000 Nachfolgen an. Zuletzt wurden pro Jahr aber gerade einmal 60.000 Nachfolgen erfolgreich geregelt. Damit sind 50% der Nachfolgen aktuell ungelöst. Es braucht neue, überraschende und manchmal auch ungewöhnliche Lösungen für die nächste Generation (Hidden) Champions! Externe Nachfolgerinnen und Nachfolger aus der Gründungsszene könnten solch eine unkonventionelle Lösung sein.
17 Mrd. EUR − diese Rekordsumme wurde allein im vergangenen Jahr in deutsche Neugründungen investiert. Das ist mehr als jemals zuvor. Die Gründungsszene boomt und wird bereits als zukünftiger Mittelstand gehandelt. Ein Start-up in Deutschland beschäftigt laut Deutschem Startup Monitor 2021 im Schnitt 17,6 Personen, Tendenz steigend. 91,6% der Jungunternehmen planen zudem Neueinstellungen von durchschnittlich 8,7 Beschäftigten. Zurückhaltend gerechnet wurden in Deutschland bereits über 1,6 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt durch Start-ups geschaffen. Bis 2030 könnten es laut Studie Wirtschaftswunder 2.0 nahezu vier Millionen Menschen sein. Das ist beeindruckend, reicht allerdings nicht aus, um die zu erwartenden wegfallenden Arbeitsplätze im Mittelstand aufzufangen.
Same but different
Gründende an der Spitze von mittelständischen Unternehmen stammen bislang meist aus der Unternehmerfamilie selbst. Dabei wäre auch die externe Nachfolge ein guter Match, ähneln sich doch die Denkweisen der Familienunternehmer und Start-up-Gründenden grundsätzlich. Beide sind Macher mit Visionen; sie wollen etwas bewegen und eigene Fußstapfen hinterlassen.
Zudem reizt viele Neugründende gerade die Aufregung des Aufbaus. Doch wenn die heiße Anlaufphase durchstanden ist, in der viele Start-ups scheitern, Prozesse und Strukturen entwickelt sind und das Unternehmen läuft, kann es dem einen oder anderen Gründenden langweilig werden. Oder sie verkaufen ihr Unternehmen zu einem möglichst hohen Preis und machen einen Exit. Dann suchen sich viele Gründende neue Herausforderungen, oft als Investoren, Mentoren oder als Seriengründer.
Neue Herausforderung Mittelstand
Warum eigentlich nicht im Mittelstand? Die Vorteile für den Mittelständler liegen auf der Hand: Die Nachfolge ist geregelt und das Unternehmen profitiert vom Netzwerk sowie der Expertise aus Start-up-Zeiten. Dazu zählen digitale und technische Kompetenzen, aber auch neue Arbeitsweisen und Methoden, die es erlauben, neue Innovationsfelder und Zukunftsmärkte zügig zu besetzen.
Besonders „softe“ Faktoren können erfolgsbefördernd sein: Gründende bringen eigene Visionen und neue Perspektiven mit, die über den „klassischen Tellerrand“ des Unternehmens oder auch der Branche schauen und Anstoß für eine wirkliche Transformation sein können. Zeitgleich verliert der Mittelstand so auch sein Imageproblem, sehen doch gerade 54% der 18- bis 29-Jährigen Familienunternehmen als Innovationsmotoren der deutschen Wirtschaft.
Kooperation auf Augenhöhe
Halb digitalisierte Prozesse neu zu denken und zukunftsfähig machen: Gründende stehen im Mittelstand vor anderen Herausforderungen als zuvor im Start-up. Es geht darum, neue Produkte und Geschäftsmodelle zu schaffen und bestehende Prozesse zu digitalisieren, sowie um Integration von Start-up-Denke und jahrzehntelang erprobten Arbeitsprozessen. Zeitgleich profitieren Gründende von der langjährigen Reputation, der Exportstärke und den weltweit etablierten Marken des deutschen Mittelstands sowie von dessen strategischen, langfristig ausgerichteten Investitionen in Aufbau und Wachstum ihres Geschäfts.
Start-up-Szene und Mittelstand: Hier treffen zwei verschiedene Welten aufeinander. Damit die Aufbruchsstimmung gelingt, sollten beide Seiten viel Verständnis füreinander mitbringen. Die Gründenden müssen sich bewusst sein, dass ihre Erfahrung kein Allheilmittel für jegliche Herausforderung im Familienunternehmen ist.
Fazit
Allein werden Start-up-Gründende die Nachfolgelücke nicht schließen können. Aber es ist Zeit, „out of the box“ zu denken und Neues auszuprobieren – nur so können der Mittelstand und seine Familienunternehmen, das Rückgrat der sozialen Marktwirtschaft, gestärkt werden, um den Wohlstand künftiger Generationen zu sichern.
In Zukunft müssen sich Mittelständler und Familienunternehmen gezielt in Innovationsökosysteme einbringen. Ein zukunftsfähiges Deutschland braucht ein funktionierendes Ökosystem aus Talenten, Start-ups, Forschung und Wissenschaft, Investoren sowie der Industrie. Hier können Mittelständler Gründende unverbindlich kennenlernen und innovative Kooperationen auf den Weg bringen.
Dieser Beitrag erscheint in der Unternehmeredition 1/2022.
Dr. Leopold von Schlenk-Barnsdorf
Mittelstandsexperte Dr. Leopold von Schlenk-Barnsdorf ist Program Manager von FamilienUnternehmerTUM. Die Initiative von Europas größtem Gründungs- und Innovationszentrum UnternehmerTUM wendet sich als strategischer Innovationspartner an den familiengeführten Mittelstand und unterstützt bei der Realisierung neuer Geschäftsmodelle, der Anwendung neuester Technologien und der Kollaboration mit Start-ups.