„In der Krise braucht es Empathie und Entschlossenheit“

Interview mit Volker Groß, Managing Director, Alvarez & Marsal

Die Einberufung eines CRO ist längst keine Ausnahme mehr, im Interview spricht Volker Groß über operative Verantwortung in Sondersituationen.
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Restrukturierung ist längst kein Ausnahmezustand mehr, sondern Teil strategischer Unternehmensführung. Besonders in dynamischen und krisenanfälligen Märkten gewinnt die Rolle des Chief Restructuring Officer (CRO) an Bedeutung – als Vermittler zwischen Stakeholdern. Vor allem aber ist er für die Stabilisierung und Neuaufstellung der Unternehmen verantwortlich. Volker Groß, Managing Director bei Alvarez & Marsal, spricht im Interview über operative Verantwortung in Sondersituationen, den richtigen Zeitpunkt zum Eingreifen und die Kunst, in angespannten Lagen Vertrauen aufzubauen.

Unternehmeredition: Herr Groß, Ihre Position als CRO ist in Unternehmen typischerweise mit besonders kritischen Phasen verbunden. Hat sich Ihre Rolle in den vergangenen Jahren verändert?

Volker Groß: Die Rolle hat sich nicht unbedingt völlig verändert – gefragt war sie schon immer, wenn Unternehmen in Schwierigkeiten geraten. Aber ja: Die Anforderungen und Erwartungen an einen CRO sind heute deutlich komplexer. Früher ging es in erster Linie darum, Maßnahmenkataloge abzuarbeiten. Heute wird von einem CRO erwartet, dass er Unternehmen nicht nur stabilisiert, sondern sie auch zukunftsfähig macht – also einen echten Transformationsprozess gestaltet.

Wird der CRO in der Regel als spontane Krisenmaßnahme installiert oder zunehmend als dauerhafte Managementfunktion?

Eine fest etablierte Funktion ist der CRO selten. Meist wird er punktuell und auf Druck von außen eingesetzt – typischerweise von Finanzierern. Die sehen oft als Erste, dass sich Unternehmen in eine bedenkliche Richtung entwickeln, und fordern eine neutrale, externe Führungsperspektive. Das bestehende Management erkennt die Notwendigkeit häufig zu spät oder kann in dieser spezifischen Phase überfordert sein.

Was genau unterscheidet den CRO von einem klassischen Geschäftsführer?

Der CRO bringt den Blick von außen mit – er muss sich nicht rechtfertigen für Entscheidungen der Vergangenheit. Er hat keine emotionale Bindung an Strukturen oder Personen und kann sich ganz nüchtern auf das fokussieren, was für die Rettung notwendig ist. Zudem gibt es in der Restrukturierung spezifische rechtliche, finanzielle oder auch kommunikative Anforderungen. Er darf dabei aber nicht bloßer Technokrat sein, sondern muss die notwendige Empathie mitbringen, um das bestehende Team mitzunehmen. Das ist die wahre Kunst: konsequent sanieren und gleichzeitig die Menschen gewinnen.

Das klingt nach einem Spagat.

Absolut. Wenn Sie nur Empathie mitbringen, aber keine Härte, dann kommen sie vielleicht gut an, aber verändern nichts. Wenn Sie zu hart oder nur kurzfristig agieren, verlieren Sie schnell die Mitarbeiter im Unternehmen. Gerade im Mittelstand, wo wir oft tätig sind, ist dieses Gleichgewicht essenziell. Ein CRO muss glaubwürdig, ehrlich und faktenbasiert arbeiten – und er muss das Vertrauen aller Stakeholder gewinnen: Mitarbeiter, Gesellschafter, Finanzierer, Kunden und Lieferanten.

Viele Restrukturierungen scheitern oder führen nicht zu nachhaltigem Erfolg. Woran liegt das?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Tatsächlich sehen wir viele Firmen, die nach wenigen Jahren erneut in Schwierigkeiten geraten oder sogar mehrfach in die Insolvenz gehen. Die Maßnahmen sind oft zu kurz gedacht – gerade einmal so viel, dass das Unternehmen überlebt. Oftmals wird zeitlich und finanziell ein zu enges Korsett geschnürt. Es fehlt an Innovationen, notwendigen Investitionen und einer echten Perspektive. Wir brauchen in dem Prozess aber auch mehr Ehrlichkeit: Nicht jede Firma lässt sich retten. Wenn man saniert, dann richtig und mit dem Ziel, einen nachhaltigen Turnaround einzuleiten.

Also mehr Gestaltung, weniger Symptombekämpfung?

Ganz genau. Der CRO darf nicht nur Notarzt sein, der kurz stabilisiert – er muss zum Gestalter werden. Deshalb spricht man heute auch oft vom Chief Transformation Officer (CTO), weil es mehr um Zukunft geht als um Schadensbegrenzung. Der Titel klingt positiver, aber der Anspruch dahinter ist entscheidend: raus aus der Krise, rein in die Wettbewerbsfähigkeit.

Sollte ein CRO also länger im Unternehmen bleiben – vielleicht sogar CEO werden?

Das hängt stark von der Person und dem Unternehmen ab. Die Sanierungsphase verlangt andere Qualitäten als das langfristige Wachstum. Viele CROs sind darauf spezialisiert, durch schwieriges Fahrwasser zu navigieren. Danach kann es sinnvoll sein, den Staffelstab zu übergeben. Es gibt aber auch Fälle, in denen der CRO bleibt und in eine dauerhafte Führungsrolle wächst.

Welche Restrukturierungsszenarien begleiten Sie konkret?

Wir decken das gesamte Spektrum ab, wobei sich die Unternehmen in der Regel in einer Liquiditäts- und Ergebniskrise befinden; es geht also um Überlebensstrategien in Krisenzeiten. Neben der kurzfristigen Stabilisierung liegt unser Fokus auf operativen und strategischen Verbesserungen mit dem Ziel, die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Ergänzend können auch ein M&A-Prozess oder, wenn es die Situation erfordert, Insolvenzszenarien geprüft werden. Bei Bedarf begleiten wir auch diese Prozesse professionell – im Vordergrund steht jedoch der operative Turnaround und Erhalt des Unternehmens.

Wie wichtig ist das Stakeholder-Management in solchen Phasen?

Das ist einer der zentralen Erfolgsfaktoren. Ein CRO bewegt sich in einem Spannungsfeld unterschiedlichster Interessen: Gesellschafter, Banken, sonstige Finanzierer, Mitarbeiter, Betriebsräte, Gewerkschaften, Kunden, Lieferanten et cetera. Diese Gruppen verfolgen nicht immer die gleichen Ziele. Im Gegenteil – manchmal steht der Eigenoptimierungswunsch einer Partei dem Fortbestand des Unternehmens entgegen. Der CRO muss hier vermitteln, überzeugen und Lösungen entwickeln, die möglichst vielen gerecht werden, vor allem aber dem Unternehmen dienen. Im Idealfall ist dies nicht der kleinste gemeinsame Nenner.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Es gibt oft unterschiedliche Interessen zwischen Kunden, bei denen die Versorgungssicherheit im Vordergrund steht, und Finanzierern, die ihre Risiken möglichst minimieren und ihr Engagement kurzfristig reduzieren möchten. In einem konkreten Fall drängte ein Finanzierer auf einen schnellen Verkauf. Aufgrund seiner Sicherheiten hätte er im M&A-Prozess keine Zugeständnisse machen müssen, bei anderen Stakeholdern hätte es jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit einen hohen Wertverlust gegeben. Wir konnten ihn überzeugen, im Sinne des Unternehmens einer operativen Sanierung zuzustimmen. Heute steht die Firma wieder gut da, ohne dass ein Stakeholder Verluste hinnehmen musste. Solche Entscheidungen erfordern Vertrauen und eine klare, nachvollziehbare Strategie des Unternehmens.

Welche Hebel sind aus Ihrer Erfahrung in den ersten 100 Tagen eines CRO am wichtigsten?

Erstens: Liquidität sichern. Ohne Liquidität geht gar nichts. Zweitens: Transparenz schaffen. Die meisten Krisenfirmen wissen gar nicht, wo genau sie Geld verlieren. Drittens: ein belastbares Konzept entwickeln, wie es weitergehen soll – basierend auf harten Fakten, nicht auf Wunschdenken. Und viertens: Kommunikation. Offen, ehrlich, durchdacht. Die Stakeholder müssen verstehen, was passiert – und warum.

Welche Maßnahmen stehen typischerweise im Zentrum?

Ganz wesentlich ist die Verbesserung der Transparenz; hier liegt oft ein Kernproblem von Krisenunternehmen. Ebenso muss die Organisation stabilisiert werden. Die weiteren Schwerpunkte sind sehr individuell. Sicherstellung der Liquidität und Maßnahmen zur Kostensenkung sind Standard. Nach einer ersten Stabilisierung ist aber meistens eine Neuausrichtung notwendig. Dazu gehören Themen wie die Erschließung neuer Geschäftsfelder und Kundengruppen, eine Optimierung des Produktportfolios und des Pricings, zudem aber auch innovativere Ansätze wie Design-to-Cost oder die Qualifizierung alternativer Materialien im Einkauf.

Wenn Sie auf Ihre Branche blicken: Wird der CRO zunehmend zur permanenten Rolle?

Nein, das glaube ich nicht. Wie die Digitalisierung ist auch die Restrukturierung und die Transformation eine Querschnittsaufgabe. Der CRO bleibt Spezialist für besondere Situationen. Das Bewusstsein für Veränderungsbedarf muss dauerhaft verankert werden – beim CEO, CFO und im gesamten Führungsteam.

Abschließend: Was zeichnet Alvarez & Marsal im Wettbewerb aus?

Wir übernehmen Verantwortung – buchstäblich. Unsere Managing Directors gehen oft selbst in die Organschaft des Unternehmens, sind also keine externen Berater am Rand, sondern operative Entscheider. Wir arbeiten mit kleinen, erfahrenen Teams und steuern die Prozesse gemeinsam mit dem Kunden – nicht an ihm vorbei. Unser Erfolg misst sich nicht an PowerPoint-Folien, sondern an Liquidität, Ergebnis und der nachhaltigen Überlebensfähigkeit des Unternehmens.

Herr Groß, vielen Dank für das offene und spannende Gespräch.

Das Interview führte Eva Rathgeber.

👉 Dieser Beitrag ist auch in der Unternehmeredition-Magazinausgabe 2/2025 erschienen.


ZUM INTERVIEWPARTNER

Foto: © Alvarez & Marsal

Volker Groß ist Managing Director bei Alvarez & Marsal Financial and Operational Restructuring in Düsseldorf. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Turnaround-Management und hat über 30 komplexe Restrukturierungsprojekte erfolgreich abgeschlossen.

 

 

Autorenprofil

Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen.

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