Der Krieg in der Ukraine – einem vergleichsweise gut entwickelten Land mit einem Geflecht von Wirtschaftsbeziehungen – zeigt die Verletzbarkeit der Lieferketten und die großen Abhängigkeiten der deutschen Industrie. Wir geben eine Übersicht der aktuellen Auswirkungen.
Weitere Gasanbieter bald insolvent?
Der Niedersächsische Städtetag warnt vor weiteren Insolvenzen von Energieversorgern. Der Konflikt in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland könnten die Lage und die negative Entwicklung am Gasmarkt noch zusätzlich verschärfen. An der niederländischen Energie-Börse TTF hat sich der Preis für Erdgas seit dem Jahresanfang annähernd verdreifacht. Durch die weiter steigenden Preise für Erdgas seien Versorgungsunternehmen stark bedroht. Bereits seit dem vierten Quartal 2021 haben fast 20 deutsche Energieversorger Insolvenz angemeldet. In der Folge fielen zahlreiche Kunden in die Grundversorgung des jeweiligen Anbieters zurück und mussten teilweise erheblich höhere Preise zahlen. Zugleich war es für die zumeist kommunalen Energieversorger teilweise schwierig, kurzfristig ausreichende Mengen an Gas für die neuen Kunden zu beschaffen. „Um die Grundversorger ein Stück weit zu entlasten, käme unseres Erachtens beispielsweise eine mindestens einjährige Vertragsbindung der Kunden in Betracht», schlug der Präsident des Niedersächsischen Städtetages, Frank Klingebiel, vor.
Regierung arbeitet an Hilfspaketen
Nach übereinstimmenden Medienberichten arbeiten das Bundesfinanz- und das Bundeswirtschaftsministerium an umfangreichen Hilfspaketen für die deutsche Wirtschaft, um die Auswirkungen der Ukraine-Krise abzufedern. Die Rede ist unter anderen von einem “Schutzschirm” nach dem Vorbild der Hilfspakete während der Corona-Pandemie. Über Umfang und Volumen gibt es aber noch keine weiteren Informationen. In vielen Industrie-Unternehmen, die einen hohen Energieverbrauch haben, wie beispielsweise der Papierindustrie oder in der Kunststoffverarbeitung drohen massive Probleme durch die steigenden Kosten. Ein Stahlwerk im Norden von Augsburg hat in dieser Woche seine Produktion tageweise eingestellt, da der Betrieb aufgrund der Energiepreise nicht mehr wirtschaftlich sei. Einen besonderen Fokus wollen beide Ministerien bei ihren Hilfspaketen aber auf die Energiebranche legen, denn die starken Preisanstiege sowie die Probleme in den Lieferketten sorgen dort für sehr große Probleme.
Logistik- und Busbranchen schlagen Alarm
Angesichts der massiven Preissteigerungen von rund 50% bei Diesel seit dem Jahresanfang – aber auch bei den klimafreundlicheren Gaskraftstoffen CNG und LNG – schlagen die Verbände der Logistikwirtschaft und der Busbranche (AMÖ, BDO, BGL, und BWVL) gemeinsam in einer Pressemitteilung Alarm. Die Kraftstoffkosten für den Transport- und Logistiksektor aber auch für den Reisebusverkehr seien zu einem fundamentalen Belastungsfaktor für den deutschen Mittelstand und die deutsche Verkehrswirtschaft geworden. Dies belaste nicht nur die Liquidität der Firmen, sondern diese Situation werde in vielen Fällen zur Existenzfrage. Mit jeder Fahrt würden viele Unternehmen inzwischen Verluste machen. Die Verbände eine „unverzügliche staatliche Intervention“. Andernfalls könne die Logistikwirtschaft die Versorgungssicherheit nicht aufrechterhalten und die Busbrache insbesondere nicht den Reisebusverkehr. Hinter dieser Ankündigung steckt im Prinzip die Drohung mit leeren Regalen und Tankstellen aufgrund fehlender Lieferungen.
Bundesverbandes Großhandel fordert Hilfen
„Die aktuellen Sanktionen zeigen auch bei uns ihre Wirkung. Knapp ein Drittel der Groß- und Außenhändler sind von den Maßnahmen betroffen. Durch den Krieg und die verhängten Sanktionen verlangsamt sich die wirtschaftliche Erholung in Deutschland weiter. Neben den erschwerten Beschaffungswegen belasten vor allem die deutlichen Preissteigerungen im Energiesektor unsere Unternehmen“, erklärt Dr. Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Der BGA hatte seine Mitgliedsunternehmen nach den wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Konfliktes gefragt. Dabei erwarten 62% der befragten Firmen eine Verlangsamung, weitere 32% befürchten eine Unterbrechung der wirtschaftlichen Erholung. Sorgen machen den Unternehmen die Energiepreise und die Lieferketten: 55% sehen Steigerungen der Energiekosten und 47% die Neuausrichtung der Beschaffungswege als die größten anstehenden Belastungen.
Probleme auch in der Lebensmittelindustrie
Eine Kombination von Faktoren in der Folge des Ukraine-Kriegs sorgt auch für Probleme in der Lebensmittelbranche. Nach einem Bericht des Branchenmagazins „Lebensmittelzeitung“ führen Steigerungen der Energiekosten sowie auch Probleme bei den Lieferketten zu erheblichen Preissteigerungen. Der Preis für Schweinefleisch habe sich um rund 50% erhöht. Eine zusätzliche Schwierigkeit dürften ausbleibende Lieferungen aus der Ukraine bilden, da hier viel Mais, Weizen, Gerste, Soja und Raps angebaut wird. Im Jahr 2019 entfielen nach Angaben des Kreditversicherers Coface auf Russland und die Ukraine zusammen jeweils rund 20% der weltweiten Ausfuhren von Weizen, Gerste und Mais. Darüber hinaus stehen beide Nationen für etwa 75% der weltweiten Ausfuhren von Sonnenblumenkernen und Distelöl – beide werden als Speiseöl für den menschlichen und tierischen Verzehr verwendet. Die stark steigenden Kosten dürften mittelfristig auch die Liquiditätslage zahlreicher Unternehmen belasten. Die Sanktionen gegen Belarus können sich auch negativ auf die Düngermittel-Branche auswirken, da dieses Land einer der größten Produzenten von Pottasche und anderen Inhaltsstoffen für Düngemittel ist.
Coface fürchtet Stagflation
Die hohen Rohstoffpreise waren nach Ansicht des Kreditversicherers Coface bereits vor Ausbruch des Konflikts Störfaktoren für den globalen Aufschwung. „Die aktuelle Eskalation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Preise länger hoch bleiben. Dies wiederum steigert die Gefahr einer lange anhaltenden hohen Inflation und erhöht damit das Risiko einer Stagflation, also geringes bis kein Wachstum bei steigenden Preisen“, sagt Coface-Volkswirtin Christiane von Berg. In der Folge drohten soziale Unruhen sowohl in Industrie- als auch in Schwellenländern.
Automobilbranche mit Lieferengpässen
Der Konflikt in der Ukraine wirke sich auf den ohnehin angespannten Automobilsektor aus. Es komme zu verschiedenen Engpässen und hohen Rohstoffpreisen unter anderem bei Metallen, Halbleitern, Kobalt, Lithium oder Magnesium. Ukrainische Automobilwerke beliefern nach Coface-Angaben große westeuropäische Automobilhersteller insbesondere mit Kabelbäumen – nun kündigten einige bereits Produktionsstopps von Werken in Europa an. Auch die Produktion westeuropäischer Autobauer in Russland sei wegen hoher politischer Unsicherheiten und aufgrund von Problemen im Zahlungsverkehr zumindest kurzfristig eingestellt.
Ausgelagerte IT-Abteilungen betroffen
Ein zusätzliches Problem sind die zahlreichen einheimischen IT-Experten, die bisher in der Ukraine gearbeitet haben. Viele Firmen haben Teile ihrer IT-Prozesse ausgerechnet in dieses Land ausgelagert und stehen nun teilweise vor großen Problemen.
Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.