„Europa hat viel zu bieten, nur nicht Vertrauen in sich selbst“

Gastkommentar von Roman Göd, Gründungs- und Managing Partner, MP Corporate Finance

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Wenn wir heute über wirtschaftliche und technologische Spitzenleistungen sprechen, fällt der Blick fast automatisch auf die Vereinigten Staaten oder China. Europa hingegen wird oft als alter Kontinent gesehen – reich an Geschichte, aber arm an Innovationskraft. Dabei greift dieses Bild deutlich zu kurz: Denn viele der Ideen, Technologien und Theorien, auf denen wirtschaftliche Weltmächte wie etwa die USA basieren, haben ihren Ursprung in Europa. Eine Tatsache, die uns nicht nur stolz machen, sondern vor allem zum Nachdenken anregen sollte: Warum überlassen wir anderen die Umsetzung dessen, was wir eigentlich hervorgebracht haben? Und was sagt das über die Rolle Europas in der Welt von morgen aus?

Ohne zu tief in die Geschichte zurückgreifen zu wollen: Europa war bereits mehr als einmal der Ursprung weltverändernder Innovationen; von der industriellen Revolution – der Keimzelle der modernen Wirtschaft – bis hin zu Erfindungen wie der Dampfmaschine oder dem elektrischen Licht. Alle drei sind Beispiele, wie Innovationen die Produktionsweisen von Unternehmen nicht nur nachhaltig verändert, sondern vor allem die Basis geschaffen haben, um wirtschaftliches Wachstum überhaupt erst zu ermöglichen. Und alle waren made in Europe.

USA waren jahrzehntelang Profiteure europäischer Ideen – das muss sich ändern

Doch was ist seither passiert? So viele historisch bedeutende Entwicklungen europäische Unternehmen und Wissenschaftler auch hervorgebracht haben, eines wurde dabei – zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten – vernachlässigt: Dass Wachstum auch immer skaliert werden muss. Zudem hat man sich gewiss auch zu lange auf seinen Lorbeeren ausgeruht; Stichwort Automobilindustrie. Und hier können und müssen wir gerade von Staaten wie den USA lernen, denn ein Großteil dessen, was die USA zu einer wirtschaftlichen Weltmacht werden ließ, ist in vielerlei Hinsicht auf europäische Wurzeln zurückzuführen. Man könnte also beinahe sagen: Die Vereinigten Staaten wurden zu Profiteuren europäischer Ideen – eine wirtschaftliche und technologische Erfolgsgeschichte, die maßgeblich auf dem intellektuellen Kapital Europas gründet.

Heute jedoch scheint Europa in dieser Dynamik zurückzubleiben. Während in Asien und den USA entschlossen in neue Technologien investiert wird, verlieren wir uns in Europa zu oft in Debatten, Regulierungsbestrebungen und lähmender Zurückhaltung. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Vergleich mit Ländern aus den (noch) Emerging Markets, allen voran Indien, das durch eine breit angelegte Technologieoffensive – vom Staat gefördert – binnen kurzer Zeit einen deutlichen Sprung nach vorne gemacht hat auf der Liste globaler und vor allem gefragter Wirtschaftsplayer. Genau hier muss in Europa ein Umdenken einsetzen.

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Europas Stärke liegt nicht in der bloßen Nachahmung, sondern im Erfinden, im Vordenken – in einer tief verwurzelten Innovationskultur, die aus Bildung, Forschung und kritischem Denken gespeist wird. Denn wie bereits zu Beginn erwähnt: Europa war einmal der Ursprung bahnbrechender Ideen. Namen wie Einstein, Curie, Turing oder Planck stehen für den Erfindergeist, der ganze Generationen geprägt hat. Und auch heute noch forschen in Europa brillante Köpfe an den Technologien der Zukunft. Wollen wir aber auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten (wieder) zur Spitze des globalen Wettbewerbs zählen, reicht es eben schlichtweg nicht mehr aus, nur der Ursprung großartiger Ideen zu sein. Wir müssen dringend wieder selbst zu einem Ort wirtschaftlicher und technologischer Erneuerung werden und die Umsetzung dessen nicht anderen Ländern überlassen.

Europa, wo ist deine Innovationskraft?

Denn aktuell stehen wir weltweit, aber vor allem in Europa – und Deutschland damit eingeschlossen – an einem Scheideweg: Wir leben in einer Welt, die sich schneller verändert als je zuvor, und das beinahe täglich. Der Klimawandel schreitet voran, die digitale Transformation stellt ganze Branchen auf den Kopf und geopolitische Spannungen zwingen uns, unsere Werte zu verteidigen. Viele fragen sich: Wo steht Europa in dieser neuen Weltordnung? Und vor allem: Was kann Europa tun? Dabei ist die Antwort auf diese Frage wahrlich nicht schwer zu finden: Europa muss sich auf seine größte Stärke besinnen – und das ist seit jeher seine Innovationskraft. Denn in einer Zeit wie dieser brauchen wir Lösungen, die nicht einfach importiert, sondern aus der eigenen Kraft heraus entwickelt werden müssen. Und in Europa haben wir sowohl das Potenzial als auch das Know-how, das es dafür benötigt. Ebenso wie das Fundament, auf dem Europa steht – denn dieses ist mit seinem dichten Netz aus beispielsweise exzellenten Universitäten, weltweit anerkannten Unternehmen und hoch qualifizierten Fachkräften alles andere als instabil.

Im Bereich Forschung und Entwicklung etwa gehört die Europäische Union weltweit zu den größten Förderern. Warum also scheitern wir? Oder haben zumindest den Eindruck, dies zu tun? Weil wir uns in Europa in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu sehr von außen haben lenken und beeinflussen lassen und dabei unsere zentrale Stärke des Erfindergeistes – und das müssen wir ehrlich sagen – schlichtweg nicht genutzt haben. Und weil wir zwischen Bürokratie, Risikoaversion und zögerlicher Investitionsbereitschaft diesen Vorsprung bewusst verspielen – zumindest scheint es so.

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Während andere Regionen schnell handeln, investieren und skalieren, diskutieren wir zu oft, zögern, regulieren, verlangsamen. Das zeigt sich gegenwärtig besonders stark in Schlüsselbereichen wie künstlicher Intelligenz, grüner Technologie oder Biotechnologie. In all diesen wichtigen Zukunftsbereichen hinken wir im Vergleich zu Playern wie den USA oder China zunehmend hinterher. Darüber hinaus kämpfen Start-ups mit komplizierten Förderstrukturen, während andere Länder ihre Innovationszyklen schneller und entschlossener durchlaufen. Wo also bleibt unsere historisch bewiesene Innovationskraft? Wir müssen verstehen, dass Innovationskraft nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor ist – sie ist vielmehr Ausdruck von Selbstvertrauen und Gestaltungswillen. Und daran mangelt es uns in Europa aktuell nicht zu gering. Was wir jetzt sehr schnell lernen müssen? Endlich wieder an uns selbst zu glauben – an unsere Fähigkeiten und an die Rolle, die wir in der globalen Wirtschaftsordnung von morgen spielen wollen, denn das können wir.

Bei der Diskussion darum, was Europa fehlt, geht es also sicherlich nicht um Potenzial oder Kompetenz. Es geht um Mut. Kurz gesagt: Was fehlt, ist nicht das Wissen, sondern die Entschlossenheit und die notwendigen Rahmenbedingungen, daraus auch wirklich Taten werden zu lassen und sich wieder auf die eigenen Beine zu stellen. Was fehlt, ist eine gemeinsame Vision – ein europäischer Wille zur Zukunft. Ich appelliere daher an die Politik: Macht aus Forschung echten Fortschritt! Ich appelliere an die Wirtschaft: Setzt auf mutige Ideen – nicht nur auf sichere Rendite! Ich appelliere an uns alle: Glauben wir wieder an den europäischen Erfindergeist. Fördern wir Start-ups, schützen wir nicht nur Märkte, sondern ermöglichen Neues. Lassen wir Talente wachsen – nicht auswandern.

Denn nach mehr als 20 Jahren Erfahrung in der Zusammenarbeit mit europäischen Industrieunternehmen bin ich aus tiefstem Herzen überzeugt: Europa wird das schaffen. Oft haben wir bewiesen, dass unsere Unternehmen Krisen in Chancen verwandeln können. Und jetzt ist die Zeit, genau das wieder zu tun. Aber nicht etwa wie in jüngster Vergangenheit durch Anpassung, sondern durch Ambition und Leidenschaft. Und mit mehr Mut und Entschlossenheit zum Risiko, in einem Raum mit höherer Gestaltungsfreiheit! Ganz nach dem Motto: Europa, erinnere dich an deine Stärke – an deinen Ursprung. Die Zukunft wartet nicht.

👉 Dieser Beitrag erscheint auch in der nächsten Magazinausgabe der Unternehmeredition 3/2025 (Erscheinungstermin: 23. September 2025).

Autorenprofil
Roman Göd

Roman Göd ist Gründungs- und Managing Partner bei der auf den europäischen Industriesektor spezialisierten M&A-Beratung MP Corporate Finance und besitzt mehr als 20 Jahre Transaktionserfahrung im Sektor Electronics, Tech und Internet of Things. MP Corporate Finance wurde vor mehr als 25 Jahren gegründet und ist europaweiter Marktführer im Bereich Industrial M&A.

 

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