Das Insolvenzparadoxon − wie lange hält es noch an?

Wie Restrukturierer und Insolvenzverwalter die aktuelle Situation sehen

Foto: Andrii_adobe-Stock

Das Insolvenzparadoxon der vergangenen Jahre setzt sich fort – diesmal jedoch mit umgekehrten Vorzeichen: Die wirtschaftliche Lage bessert sich langsam und die Zahl der Insolvenzanmeldungen klettert immer weiter nach oben. Welche Branchen sind gerade im Fokus? Wie geht die Entwicklung weiter? Dazu haben wir Restrukturierungs- und Insolvenzexperten befragt.

Die Zahl der angemeldeten Insolvenzen liegt 2023 konstant über den Werten des Vorjahres. Das Niveau der Vor-Corona-Zeit ist allerdings immer noch nicht erreicht – und das, obwohl seit Monaten immer neue Fälle auftreten. Besonders gebeutelt ist seit einiger Zeit der stationäre Einzelhandel; im Schwerpunkt der Bereich Mode und Schuhe. Hier gab es eine Vielzahl von Insolvenzen, darunter bekannte Namen wie Peek & Cloppenburg Düsseldorf, Zapata, Gerry Weber, TK Fashion Group, Reno, Görtz, Orsay und Adler

Dr. Lutz Jäde, Foto: Oliver Wyman

Modemärkte. Im erweiterten Sinne ist auch die zweite Insolvenz des Kaufhausriesen Galeria Karstadt Kaufhof diesem Segment zuzuordnen. „Einige Branchen werden in den nächsten Jahren eine Art „perfekten“ Sturm erleben. Dieser entsteht durch eine Kombination von Kosteninflation bei wichtigen Rohstoffen, geopolitischen Risiken in der Supply Chain und disruptiven Veränderungen bei Technologien und Kundenanforderungen. Insbesondere dem Maschinen- und Anlagenbau, der Automobilzulieferindustrie und Herstellern von Konsumgütern stehen große Herausforderungen bevor“, so Dr. Lutz Jäde, Partner bei Oliver Wyman und Leiter der Turnaround & Restructuring Practice in Europa. Das klingt nach einem weiteren Anstieg der Fallzahlen und der betroffenen Arbeitnehmer. Die Energiekrise hat sich in den vergangenen Monaten abgeschwächt und die Preise für Strom, Gas, Öl und Wärme pendeln sich langsam wieder auf einem geringeren Niveau ein. Dieses liegt aber noch immer über den Werten vor dem Angriffskrieg in der Ukraine – daher dürfte es insbesondere für energieintensive Unternehmen aufgrund des hohen Kostendrucks weiter bei schwierigen Bedingungen bleiben.

 

Start-ups mit Finanzierungsproblemen

Peter Wieland, Geschäftsführender Gesellschafter bei SGP Schneider Geiwitz Wieland Corporate Finance GmbH, hat folgenden Blick auf die Entwicklung der kommenden Monate: „Neben den anhaltenden Insolvenzen im Handel sehen wir vermehrt eine

Peter Wieland, Foto: SGP

Zunahme von Insolvenzen in der Automobilzulieferbranche und im Baugewerbe. Darüber hinaus nehmen wir vermehrt Insolvenzen bei Start-ups wahr.“ Die jungen Unternehmen leiden zunehmend unter der doppelten Belastung von steigenden Zinsen und gleichzeitig sinkenden Bewertungen. Beide Faktoren machen es schwierig, ambitionierte Wachstumspläne weiter zu verfolgen und dafür entsprechendes Kapital einzusammeln. Wenn Finanzierungsrunden nicht zustande kommen, steht schnell das komplette Unternehmen unter Druck und muss Insolvenz anmelden. Jüngster prominenter Fall war der deutsche Kältemaschinenhersteller Efficient Energy GmbH. Hier hatten Investoren fast 100 Mio. EUR in das Unternehmen investiert, aber eine weitere Finanzierungsrunde scheiterte. Auch die Start-ups Banovo (Portal für Badsanierungen), sleeperoo (Tiny Houses) und Zenloop (Feedbackmanagement) mussten aufgeben, ebenso wie der Elektroautobauer Sono Motors.

Sorgenkinder in der Wirtschaft

Sebastian Bergmann, Foto: Würth Leasing

„Zu den besonders risikobehafteten Wirtschaftszweigen gehört derzeit neben dem Handel und dem Dienstleistungssektor auch das Baugewerbe, speziell auch die Immobilienentwickler. Im produzierenden Gewerbe – welches wir überwiegend abdecken – sind es, neben den Maschinenbauern, nach wie vor die Automobilzulieferer, welche zu den Sorgenkindern der Finanzierer zählen. Diese Tendenz sollte unserer Meinung nach vorerst, also auch im Laufe des gesamten Jahres anhalten“, lautet die Einschätzung von Sebastian Bergmann, Key Account Manager Asset Finance bei Würth Leasing. Eine ähnliche Meinung vertritt Jan-Erik Gürtner, Partner und Geschäftsführer bei Helbling Business Advisors: „Am stärksten sind die Branchen mit starkem Fokus auf den Heimatmarkt von Insolvenzen betroffen. Das sind der Einzelhandel, die Textilbranche als Frühzykliker und der Bereich Consumer Goods. Aber auch die Automobilzulieferer und angrenzende Lieferanten sind weiterhin insolvenzgefährdet, auch wenn der viel beschworene ‚perfekte Sturm‘ bislang ausgeblieben ist. Auch die Maschinenbaubranche rückt in den Insolvenzfokus, wenn Unternehmen kein klares Differenzierungsmerkmal zu chinesischen Wettbewerbern haben. Chinesische Maschinenbauer werden zunehmend mit ihren vermeintlichen ‚Billigmaschinen‘ zu ernst zu nehmenden Konkurrenten.“ Tatsächlich wurde insbesondere der Bereich Automotive im vergangenen Jahr als extrem gefährdet eingestuft. Es gab auch einige Insolvenzen mit den Unternehmen Borgers Gruppe, Veritas und Dr. Schneider Gruppe. Eine „Welle“ war jedoch nicht zu erkennen – ganz im Gegensatz zur anfangs geschilderten Entwicklung im Bereich Mode und Schuhe.

Perfekter Sturm in der Bauwirtschaft

Jan-Erik Gürtner, Foto: Helbling Business Advisors

Hatte man in den vergangenen beiden Jahren aufgrund der Einschränkungen durch die Coronapandemie, die zusammengebrochenen Lieferketten und den aufkommenden Elektroautoboom mit massiven Problemen bei Automobilzulieferern gerechnet, so erleben stattdessen seit Anfang 2023 der Bau- und Immobiliensektor den perfekten Sturm. Gürtner erklärt dazu: „Das Insolvenzrisiko im Baugewerbe steigt deutlich, denn der Wohnungsneubau ist seit dem zweiten Halbjahr 2022 stark rückläufig. Viele Wohnausbaufirmen beklagen darüber hinaus, dass auch seit Jahresbeginn 2023 keine größeren Neubauprojekte mehr auf den Markt kämen. Die anhaltend negativen Rahmenbedingungen könnten zudem dazu führen, dass auch Wohnungsbauunternehmen in eine immer schwierigere Situation geraten. Die Nachfrage nach Wohnraum jedoch ist ungebrochen hoch und steigt noch weiter, vor allem in den Großstädten und Metropolen. Im Zuge dessen dürfte die Sanierung bestehender Gebäude in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung gewinnen. Angesichts steigender Energiekosten werden zudem die Anreize wachsen, stärker energetisch zu sanieren, anstatt neu zu bauen.“

Wohnungsbau steht praktisch still

Christian Graf Brockdorff, Foto: BBL
Christian Graf Brockdorff, Foto: BBL

Die aktuellen Insolvenzen in der Baubranche betreffen zumeist mittelständische Firmen, die selten überregional bekannt sind. Im Immobiliensektor gab es mit der Adler Group und der Fakt AG größere Fälle. Hier lagen die Ursachen aber wohl vor der Zeit der aktuellen Krise im Bau- und Finanzierungssektor. Das gilt auch für den Immobilienkonzern Corestate, der zum Jahreswechsel eine Restrukturierung begann und dadurch die Insolvenz vermied. Der Wohnungsbau ist praktisch zum Stillstand gekommen – aufgrund der geänderten Zins- und Finanzierungsbedingungen. Dies wird in den kommenden Monaten zu weiteren Verwerfungen bei Bauunternehmen, deren Zulieferern sowie Fertighausherstellern und Projektentwicklern führen. „Die Zinsen für Baukredite haben sich nahezu verdoppelt – darum ist Bauen und Finanzieren für viele zu teuer geworden, nicht nur im Einfamilienhausbereich. Wir sehen deshalb wieder vermehrt Insolvenzen bei Projektentwicklern und im Bauhaupt- und -nebengewerbe“, erklärt dazu Christian Graf Brockdorff, Partner bei BBL.

Pflegeheime in der Krise

Ein Spezialfall in den vergangenen Monaten war die Krise von Pflegeheimbetreibern: „Von der Baukrise sind Pflegeheime gleich mehrfach betroffen. Der Mix aus Inflation, immensen Personalkosten und hohen Kreditzinsen verhindert den Bau neuer Pflegeheime und bringt bestehende in Existenznot. Hinzu kommen der akute Fachkräftemangel und der Druck, bestehende Gebäude nachhaltig zu sanieren“, meint dazu Gürtner. „Viele Pflegeeinrichtungen stecken in der Krise, weil sie insbesondere aufgrund von Personalmangel nicht voll belegen können und die gestiegenen Kosten für Energie, Lebensmittel und Personal nicht rechtzeitig durch erhöhte Pflegesätze ausgeglichen werden“, so Graf Brockdorff. Seit Beginn des Jahres sind mit Curata Care (36 Heime), Convivo (62) Hansa-Gruppe (24 ) und Doreafamilie (76) mehrere große Betreiber in die Insolvenz geschlittert. Auslöser waren nach Ansicht von Branchenkennern zumeist die zu geringen Auslastungen der Pflegeheime aufgrund von Personalmangel. Weniger belegte Betten bedeuten weniger Einnahmen, was Unternehmen in eine Krisensituation bringt. Begleitet wurden die Probleme auf der Erlösseite darüber hinaus durch steigende Mieten aufgrund der inflationsbedingten Steigerung von Indexmieten.

Nicht zu spät mit der Sanierung beginnen

Seit geraumer Zeit predigen Sanierer und Restrukturierer, dass Firmen rechtzeitig damit beginnen müssen, eine Krisensituation nachhaltig zu lösen. „Eine verschleppte Restrukturierung sehen wir sehr problematisch. Die Dauer und Kosten der Restrukturierung erhöhen sich stark durch ein zu zögerliches Handeln. Stellenweise ist der Trend bei einem zu späten Handeln leider unumkehrbar. Daher empfiehlt es sich, frühzeitig Veränderungen zu vollziehen und einen kompetenten Sanierer zu beauftragen“, erklärt Bergmann. Ähnlich sieht das auch Jäde: „Ein zu langes Zögern bei der Einleitung von Restrukturierungsmaßnahmen gefährdet den Erfolg des Turnarounds. Der Handlungsspielraum des Managements und das Vertrauen der Stakeholder nehmen mit dem Fortschritt einer Krise rapide ab. Je früher die Probleme des Unternehmens angegangen werden, umso mehr Wert kann erhalten werden.“ Die Zukunft wird zeigen, ob sich die Inhaber von Firmen diesen Ratschlag verstärkt zu Herzen nehmen werden.

Investorensuche wird schwieriger

Die stark gestiegenen Zinsen und die unsicheren wirtschaftlichen Aussichten vor allem aufgrund des Kriegs in der Ukraine machen es Sanierern derzeit sehr schwer, Übernehmer für kriselnde Unternehmen zu finden. „Momentan herrscht Unsicherheit im Markt für Distressed M&A, da die Vorstellungen von Käufern und Verkäufern zu unterschiedlich sind. Das wird sich aber ändern. Es ist ausreichend Kapital vorhanden und viele Investoren sind gezielt auf der Suche nach Unternehmen in der Krise, welche sie übernehmen und sanieren können“, meint Jäde. Anders äußert sich Wieland: „Die Erfolgswahrscheinlichkeiten, einen Käufer oder Investor für eine übertragende Sanierung oder als Insolvenzplansponsor zu finden, sind im momentanen Marktumfeld herausfordernd.“

FAZIT

Auf die Insolvenzverwalter und Restrukturierer kommen in den nächsten Monaten anspruchsvolle Aufgaben zu. Es drohen zunehmende Fallzahlen in vielen Branchen und zugleich erschweren die unsicheren Rahmenbedingungen eine Sanierung. Es ist mittelfristig damit zu rechnen, dass sich die Lage der Wirtschaft und die Zahl der Insolvenzen in Deutschland wieder stärker angleichen und das Insolvenzparadoxon damit aufgelöst wird.

Autorenprofil

Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.

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