Ukrainekrieg: Ein Fall höherer Gewalt?

Auswirkungen von Krieg und Sanktionen auf die Vertragsbeziehungen

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Der Einmarsch des russischen Militärs in die Ukraine hat enorme Auswirkungen auf die vernetzte Weltwirtschaft und die globalen Lieferketten. Zum einen leiden Bevölkerung und Unternehmen in der Ukraine unmittelbar unter den Kriegshandlungen, zum anderen sind russische Unternehmen von den verhängten Sanktionen betroffen. Diese Auswirkungen treffen mittelbar zumindest auch die direkten Vertragspartner außerhalb der Ukraine und Russlands. Es stellt sich deshalb für viele Mittelständler die Frage, ob die konkret bei ihnen vorliegende Störung der Lieferkette einen Fall der sogenannten Höheren Gewalt darstellen könnte und wer die aktuell immer höher kletternden Preissteigerungen für Material und Energie tragen muss.

Die „Höhere Gewalt“ ist im deutschen Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Sie kann jedoch zivilrechtlich als Unmöglichkeit der Leistungserbringung eingeordnet werden. Allerdings finden sich in vielen Liefer- und Leistungsverträgen vertragliche Regelungen zur Höheren Gewalt, die im Einzelfall sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Häufig werden bestimmte Ereignisse aufgezählt, die als Ereignisse der Höheren Gewalt gelten sollen.

Entscheidende Kriterien für das Vorliegen eines Ereignisses Höherer Gewalt sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls die Unvorhersehbarkeit, Unvermeidbarkeit und Außergewöhnlichkeit des Ereignisses trotz größtmöglicher Sorgfalt im eigenen Geschäftsbereich. Krieg ist ein typisches Beispiel hierfür.

Sanktionen führen zur Suspendierung der Leistungspflicht

Auch die aktuell gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen könnten ein Ereignis Höherer Gewalt darstellen – zumindest russische Gerichte hatten dies in der Vergangenheit für frühere Sanktionen entsprechend beschieden. Entscheidend ist, dass der von der Störung betroffene Vertrag vor Ausbruch des Ukrainekrieges beziehungsweise vor Verhängung der Sanktionen gegen Russland abgeschlossen wurde. Nach deutschem Recht dürfte bei einem nach Vertragsschluss verhängten Ausfuhrverbot durch Sanktionen im Regelfall eine Unmöglichkeit der Leistung vorliegen.

Hinweis: Ein nach Verhängung der Sanktionen gegen Russland geschlossener Vertrag, der die Sanktionen missachtet, dürfte nach deutschem Recht wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot grundsätzlich nichtig sein. Dies stellte der BGH zumindest für den Fall eines Verstoßes gegen die Bestimmungen des Außenwirtschaftsgesetzes klar.

Als Rechtfolge ist regelmäßig die Suspendierung von der vertraglichen Leistungspflicht für die Dauer dieses Ereignisses, der Ausschluss von Schadensersatzansprüchen, ein außerordentliches Kündigungsrecht oder ein Recht auf Anpassung des Vertrages vorgesehen. Eine Vertragskündigung oder -anpassung kommt üblicherweise erst dann in Betracht, wenn ein definierter Zeitraum des Andauerns des Ereignisses Höherer Gewalt verstrichen ist.

Auf die derzeitigen Leistungsstörungen mit Bezug zur Ukraine und Russland bedeutet das, dass aktuell wohl in den meisten Fällen die Vertragspflichten ruhen dürften; die Verträge selbst aber möglicherweise noch nicht gekündigt oder angepasst werden können.

Lieferengpässe und Preisturbulenzen

Nicht jede aktuelle Störung in der Lieferkette wird jedoch als Ereignis Höherer Gewalt einzustufen sein und das Einstellen von Lieferungen oder die Verweigerung der Abnahme von Lieferungen rechtfertigen. Nur eine direkte Betroffenheit von den Auswirkungen der kriegerischen Handlungen oder Sanktionen wird die Berufung auf Höhere Gewalt rechtfertigen. Deshalb sind die bereits während der COVID-19-Pandemie ausgelösten vielfältigen Turbulenzen in der Verfügbarkeit und Preisgestaltung von Produktionsmaterialien und die durch die aktuell nervösen Markterwartungen gestiegenen Energiepreise nicht ohne genaue Prüfung als Ereignisse Höherer Gewalt zu klassifizieren.

Die Berufung auf Höhere Gewalt und die entsprechenden Rechtsfolgen sind in jedem Einzelfall in Bezug auf das die Störung auslösende Ereignis und die gültigen vertraglichen oder gesetzlichen Regelungen genau zu überprüfen.

Unzumutbare wirtschaftliche Belastungen

Viele Unternehmen sehen weitere Verschärfungen durch eine schwindende Verfügbarkeit von Produktionsmaterialien sowie dramatische Preissteigerungen von Rohmaterialien und Energie, die bei vielen bereits zu unzumutbaren wirtschaftlichen Belastungen führen. Grundsätzlich liegt die Sicherstellung der Selbstbelieferung und die Preisgestaltung im eigenen unternehmerischen Risiko des Anbieters von Lieferungen oder Leistungen. Deshalb wird es in gewissen Grenzen dem Lieferunternehmen in der Kette rechtlich zumutbar sein, Ausweichmaterialien am Markt auch zu höheren Preisen einzukaufen und Preissteigerungen selbst zu kompensieren.

Wenn jedoch eine so außergewöhnlich hohe Preissteigerung eintritt, wie sie aktuell in einigen Bereichen zu sehen ist, kann ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen ein sogenannter Wegfall der Geschäftsgrundlage vorliegen und zu einer Vertragsanpassung oder einem Aussetzen der Leistungspflicht führen. Auch hier gilt, dass in jedem Einzelfall die Gründe für die Störung der Lieferkette sowie die vertraglichen Grundlagen der Liefer- und Leistungsbeziehung genau zu prüfen sind, insbesondere in Bezug auf vertraglich vereinbarte Vorbehalte zur Selbstbelieferung, zu Preisanpassungsklauseln oder Kündigungsmöglichkeiten.

Was sollten Unternehmen jetzt tun?

Unternehmen sollten sich in ihren kritischen Lieferketten einen Überblick über ihre geltenden Verträge verschaffen und die Gründe für die Störung ihrer Lieferkette im Einzelnen überprüfen. Zudem ist Unternehmen dringend zu empfehlen, die aktuellen Sanktionslisten ständig im Blick zu haben. Unter der derzeit unsicheren Lage mit Blick auf die Dauer der Auswirkungen der militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine und die Entwicklungen in Bezug auf Russland empfiehlt es sich, Vorbehalte zur Selbstbelieferung und Preisanpassung vertraglich rechtssicher zu vereinbaren und zurückhaltend mit der eigenen Angabe von verbindlichen Lieferterminen umzugehen.

Auch lohnt es sich, die eigene Versicherungslandschaft dahingehend zu prüfen, inwiefern die aktuell bestehenden Risiken über bestehende Versicherungen abgedeckt sind.

Ein besonderes Augenmerk sollte zudem im Fall eines rasanten Umsatz- und Liquiditätsverlusts auf die eigene wirtschaftliche Lage gerichtet werden, um eine drohende Insolvenz frühzeitig erkennen zu können.

Autorenprofil
Christine Diener
Rechtsanwältin at Ebner Stolz | Website

Christine Diener ist Rechtsanwältin und Counsel bei Ebner Stolz in Stuttgart. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen im nationalen und internationalen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus ist sie Ansprechpartnerin in allen Fragen der Legal Compliance und ist auch im Bereich Gesellschaftsrecht und M&A tätig. Sie berät insbesondere Unternehmen aus den Branchen Automotive, produzierendes Gewerbe, Anlagenbau, Energie und Handel. Vor ihrer Tätigkeit bei Ebner Stolz war sie Inhouse Syndikusrechtsanwältin / Legal Manager Europe bei einem US-amerikanischen Konzern.

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