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Die neue Ungewissheit – Teil II

Bislang konnten sich Unternehmen auf den europäischen Binnenmarkt verlassen. Die Brexit-Entscheidung und die Katalonien-Krise rütteln an diesem Glauben. Sollte sich dieser Schwebezustand verlängern oder auf weitere Regionen ausbreiten, werden sich Unternehmen andere Standorte für ihre Investitionen suchen.

Optimistisch mit der Katastrophe umgehen

Einer dieser Mittelständler ist die Progroup AG aus dem pfälzischen Landau. Das Familienunternehmen besitzt mehrere Produktionsstandorte in Europa, darunter einen im englischen Ellesmere Port, einer Industriestadt südlich von Liverpool. Etwa ein Zehntel des Umsatzes kommt derzeit von der Insel. Geht es nach Jürgen Heindl, dem Gründer und Vorstandvorsitzenden, soll dieser Anteil in den kommenden Jahren steigen – trotz Brexit. Die Progroup produziert in England Wellpappe ein lokales Commodity-Produkt für die Verpackungsindustrie. Etwa 50 Prozent des Rohstoffes muss importiert werden, größtenteils Recyclingpapier. Seit der deutlichen Abwertung des britischen Pfunds hat Heindl fast zwei Drittel seines Deckungsbeitrags verloren, obwohl er die Preise erhöht hat. Er sagt: „So oder so ist der Brexit schon eine Katastrophe.“

Heindl ist sauer, aber nicht pessimistisch. Er glaubt an den britischen Markt und dass die Umstrukturierung trotz zäher Verhandlungen mit der EU gelingen wird. Das ist kein Lippenbekenntnis, sondern es lässt sich auch beziffern. Erst vor wenigen Wochen hat die Progroup den Spatenstich für ein neues Werk gelegt, welches das alte ersetzen soll. Die Investition beläuft sich auf 85 Mio. Euro. Sie war sowieso geplant, doch mit dem Brexit hat Heindl entschieden, den Standort noch weiter auszubauen. Ziel ist es, mit der Modernisierung die zweieinhalbfache Kapazität bei gleichzeitig 30 Prozent weniger Personal zu produzieren: „Wir bauen das modernste Produktionswerk in unserer Branche“, zeigt sich Heindl selbstbewusst. Er will kämpfen und zu den Profiteuren des Verdrängungswettbewerbs gehören. Denn den prophezeit er für die Briten: „Die bevorstehende Rezession wird einige Marktteilnehmer in die Knie zwingen. Da wollen wir mit unserer neuen Stärke zu den Gewinnern gehören.“ Gerade seine Position im produzierenden Gewerbe lässt ihn zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Clubmitglied ohne Mitgliedsbeitrag?

Das gilt im Prinzip auch für die deutschen Maschinenbauer, die in Großbritannien engagiert sind. Doch im Gegensatz zur Progroup hält sich die deutsche Vorzeigeindustrie mit Investitionen seit der Brexit-Entscheidung zurück. Automobilzulieferer und Co. produzieren in Großbritannien nicht ausschließlich für den britischen Markt, sondern exportieren die Waren ins Ausland. Damit wären sie betroffen von einem Zollsystem nach dem Brexit: „Eine Investition des Maschinenbaus vor Ort macht nur Sinn, wenn der jeweilige Markt groß genug ist“, analysiert Ulrich Ackermann vom Branchenverband VDMA. Für den EU-Binnenmarkt galt das bislang. Großbritannien allein steht allerdings nur für rund viereinhalb Prozent der Branchenumsätze und ist damit zu klein.

Auf der anderen Seite muss Großbritannien drei Viertel seiner Maschinen selbst importieren und hängt damit am Tropf der europäischen Hersteller. Der Industrieanteil in Großbritannien liegt mit knapp zehn Prozent unter dem EU-Durchschnitt und ist gerade mal halb so groß wie in Deutschland.

Bislang konnten sich Unternehmen auf den europäischen Binnenmarkt verlassen. Die Brexit-Entscheidung und die Katalonien-Krise rütteln an diesem Glauben. Sollte sich dieser Schwebezustand verlängern oder auf weitere Regionen ausbreiten, werden sich Unternehmen andere Standorte für ihre Investitionen suchen.

Falls es trotz dieser ungünstigen Ausgangsposition für die Briten zu einem Zollsystem kommen sollte, sieht sich die deutsche Schlüsselindustrie gut gerüstet. Mit hohen Wachstumsraten in vielen anderen Regionen – in China peilt die Branche allein dieses Jahr einen Zuwachs von 25 Prozent an – kann ein möglicher Aderlass durch den Brexit gut kompensiert werden.

Aufgrund dieser Fakten ist es wenig überraschend, dass VDMA-Vertreter Ackermann gelassen auf die weiteren Brexit-Verhandlungen schaut. Aus seiner Sicht sind die Briten am Zug, eine konstruktive Lösung anzubieten: „Die bisherigen Papiere sind Wolkenkuckucksheime. Die Briten wollen alle Vorteile des Binnenmarktes genießen, ohne Mitglied zu sein – also alle Clubvorteile haben, ohne Mitgliedsbeiträge zu zahlen.“

 

Quelle: Statistisches Bundesamt, VDMA

Klare Botschaft: Der Brexit kommt

Neben der Papierindustrie und dem Maschinenbau sind viele andere Unternehmen in Großbritannien investiert. Mit rund 50 Mrd. Euro steuert der Außenhandel mit der Insel etwa ein Fünftel zum deutschen Exportüberschuss bei. Laut der Außenhandelskammer GTAI sind in Großbritannien rund 2.000 Unternehmen mit 420.000 Beschäftigten vertreten. Darunter finden sich auch viele Familienunternehmen wie beispielsweise Stihl, Katjes Fassin und Otto Fuchs. Sie sind besorgt, dass der Brexit für alle Akteure zum Fiasko werden könnte. Deshalb unternahmen die Gesellschafter bereits im Juli eine Delegationsreise nach London, welche die Stiftung Familienunternehmen organisierte. Im House of Commons trafen die 25 Familienunternehmer, unter ihnen auch Jürgen Heindl von der Progroup, auf Abgeordnete des britischen Parlaments. In der altehrwürdigen Atmosphäre des britischen Unterhauses mit seinem charakteristisch grün-patinierten Linoleum bekamen die deutschen Wirtschaftsvertreter eine klare Botschaft zu hören: Der Brexit kommt. Fraglich ist nur, ob der offizielle Austrittstermin im März 2019 gehalten wird.

Bislang konnten sich Unternehmen auf den europäischen Binnenmarkt verlassen. Die Brexit-Entscheidung und die Katalonien-Krise rütteln an diesem Glauben. Sollte sich dieser Schwebezustand verlängern oder auf weitere Regionen ausbreiten, werden sich Unternehmen andere Standorte für ihre Investitionen suchen.

Auf die bereits spürbaren Folgen durch die Abwertung des Pfunds reagieren die Mittelständler selbstbewusst. Genau wie die Progroup haben auch Stihl, Katjes und Co. die Preise erhöht – weil es keine nennenswerten Mitbewerber in ihrem Qualitätssegment gibt.

Es zeichnet sich ab, dass die Kunden erst mal die Zeche des nahenden Brexit zahlen müssen. Die Verbraucherpreise sind seit dem vergangenen Jahr laut Eurostat um mehr als zwei Prozentpunkte gestiegen. Mittlerweile beträgt die monatliche Teuerungsrate für die Eurozone ungewöhnlich hohe drei Prozent.

Retropie statt Utopie

Doch viele Menschen scheinen bereit zu sein, für mehr Autonomie sprichwörtlich einen hohen Preis zu bezahlen. Experten wie der Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts HWWI, Prof. Henning Vöpel, sprechen von einer „Retropie, dem Rückzug ins Vertraute, der Sehnsucht nach Ab- und Eingrenzung.“

Diese Sehnsucht zeigt sich nicht nur in Großbritannien und Katalonien, sondern auch in Belgien (Neu-Flämische Allianz), Schottland (Scottish National Party) und Italien (Lega Nord). Bei allen Regionen zeigt sich ein bestimmtes Muster, wie der Ökonom Dr. Gehring von der Universität Zürich in der November-Ausgabe der Zeitschrift Wirtschaftsdienst analysiert. Ökonomisch geht es allen Regionen prächtig, sie verfügen über viele natürliche Ressourcen wie etwa Erdöl oder sind durch ihre gute Infrastruktur und Logistik attraktiv für Unternehmen. Dazu kommt die Überzeugung, zu viel an die Solidargemeinschaft abzudrücken. Beim Brexit war das gewichtigste Pro-Argument die angeblich zu hohen Transferzahlungen an die EU. Auch in Katalonien ist der Finanzausgleich zwischen den Regionen einer der Hauptstreitpunkte zwischen den Konfliktparteien. Laut Wirtschaftsvertreter Peters ist es „ein Musterbeispiel für das, was in Spanien schief läuft“. Er kritisiert: „Man hat jahrelang versäumt, das zu regeln.“

Planbarkeit wichtiger als Einheit

Dabei ist eine mögliche Abspaltung nicht mal der Worst Case für die Unternehmen. Dies zeigt das Beispiel Slowakei nach der friedlichen Auflösung der Tschechoslowakei 1993. Auch der Verzicht auf eine EU-Mitgliedschaft muss kein ökonomischer Nachteil sein – Norwegen oder die Schweiz gehören zu den wohlhabendsten Staaten überhaupt. Was die derzeitige Lage ungleich schwieriger macht, sind der Unfrieden und ungelöste Konflikte. Das Institut der deutschen Wirtschaft warnt deshalb die beteiligten Parteien davor, mit ihrem Verhalten die wirtschaftliche Stabilität aufs Spiel zu setzen: „Derzeit brummt die Wirtschaft in Europa und gibt Widerstandskraft gegen die politischen Widrigkeiten. Allerdings dürfen diese Krisen nicht zu lange schwelen, sonst droht die gute Stimmung, allmählich zu kippen“, sagt Jürgen Matthes, zuständig für internationale Wirtschaftsordnung beim IW.

Bislang konnten sich Unternehmen auf den europäischen Binnenmarkt verlassen. Die Brexit-Entscheidung und die Katalonien-Krise rütteln an diesem Glauben. Sollte sich dieser Schwebezustand verlängern oder auf weitere Regionen ausbreiten, werden sich Unternehmen andere Standorte für ihre Investitionen suchen.

Auf dem EU-Gipfel am 14. und 15. Dezember sollen die entscheidenden Weichen für den Brexit gestellt werden. Die bisherigen Verhandlungen lassen bezweifeln, dass es zu einem einvernehmlichen Austrittsfahrplan kommt. Und eine Woche später, am 21. Dezember, sind in Katalonien Neuwahlen angesetzt. Selbst wenn diese die aktuelle Lage klären sollten, glaubt Wirtschaftsvertreter Peters nicht an eine dauerhafte Lösung: „Es wird sich höchstens eine täuschende Ruhe einstellen. Das Thema kommt spätestens alle zehn Jahre wieder hoch, wenn es nicht grundlegend geklärt wird.“

Die Ungewissheit wird also wohl noch länger andauern. Absehbar ist allein, dass die europäische  Wirtschaft darunter leiden wird.

 

 

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