Quo vadis, Mittelstand?

Fünf Hypothesen zur langfristigen Entwicklung

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Der vollumfängliche wirtschaftliche Zusammenbruch 2022 ist ausgefallen. Angesichts einer toxischen Mischung aus Krieg, Inflation und Zinsanstiegen, Energieknappheit und Lieferkettenproblemen darf es als überraschend gelten, dass bislang nur schwache Rezessionsanzeichen sichtbar wurden. Dieser Beitrag präsentiert fünf Hypothesen zu den langfristigen Auswirkungen für den Mittelstand.

Erste Signale einer wirtschaftlichen Erholung, wenngleich stark schwankend je nach Region und Sektor, sind unübersehbar. Wie sind diese Anzeichen zu deuten und wie belastbar sind sie? Welche Auswirkungen ergeben sich für mittelständische Unternehmen? Sind wir heute ähnlich überoptimistisch im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung, wie wir vor einem Jahr überpessimistisch waren?

  1. Die USA werden zu den Gewinnern zählen – wie üblich nach wirtschaftlichen oder militärischen Krisen

Dynamischer Binnenmarkt, unabhängige Zentralbank, autarke Energieversorgung – so könnte man das Rezept für einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung beschreiben. Die US-Wirtschaft hat allein im ersten Quartal 2023 über 1 Mio. neue Jobs geschaffen. Die drei Nachfragestimulierungsprogramme waren mit insgesamt 8 Bio. USD sehr umfangreich (womöglich zu umfangreich). Wie nach der Depression Ende der 1920er-Jahre, den inflationären späten 1970er-Jahren, oder auch nach der Finanzkrise 2008, werden die USA wirtschaftlich gestärkt aus der aktuellen Krise hervorgehen.

China wird voraussichtlich einigen pessimistischen Prognosen zum Trotz nicht gänzlich als Wachstumsmotor ausfallen. Neben unbestreitbaren Herausforderungen wie Demografie, Immobilienkrise, oder dem zunehmendem „Friendshoring“ westlicher Staaten, besteht gleichwohl erheblicher Nachholbedarf im Hinblick auf den privaten Konsum.

Europa und vor allem Deutschland stehen vor Herausforderungen im Hinblick auf eine langfristige Neuordnung der Energieversorgung, eine Neuordnung der Industrie (insbesondere sichtbar in der Automobil- und chemischen Industrie) sowie einen möglichen Wegfall preisgünstiger Beschaffungs- und lukrativer Absatzmärkte aufgrund von geopolitischen Spannungen.

  1. Die Volatilität der Märkte und somit die Planungsunsicherheit für Unternehmen sind gekommen, um zu bleiben

Die aktuell positiven BIP-Wachstumsraten von 0% bis 1% im Euroraum vermögen selbstverständlich nicht, die langfristig bestehenden wirtschaftlichen Unsicherheiten zu kompensieren. Das zeitliche Zusammentreffen von drei bis fünf globalen Megatrends (Geopolitik, Klimawandel, Migration, regionale Überschuldung, Digitalisierung und KI) ist nach wie vor historisch beispiellos.

Es ist derzeit kein Szenario denkbar, in dem nicht von einer dauerhaft erhöhten Volatilität der Produzenten- und Konsumentenpreise, der Energiepreise, der Zinsen sowie der Wechselkurse ausgegangen werden muss, wenngleich die Höchstwerte des Jahres 2022 voraussichtlich nicht mehr erreicht werden.

  1. Die Wahrscheinlichkeit eines nachhaltigen Aufschwungs wird durch die Zinsentwicklung bestimmt

Die Referenzzinssätze der Fed, EZB und BoE liegen Stand heute bei respektive 5,25%, 3,25% und 4,5%. Dies verdeutlicht den Vorsprung der USA hinsichtlich Eindämmung der Inflation. Wie die meisten Marktteilnehmer erwarten wir für die USA ein bis zwei weitere Zinsschritte von 0,25%, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich der Arbeitsmarkt nicht „explosiv“ entwickelt und dass die erwähnten Konjunkturprogramme nicht allzu stark inflationär wirken.

Die EZB steckt nach wie vor in der Zwickmühle, da sie einerseits weitere Zinserhöhungen beschließen müsste, weil sich die Inflation in der Eurozone, im Gegensatz zu den USA, wo sich die Inflation – trotz höheren Wirtschaftswachstums! – bereits deutlich reduziert hat, andererseits jedoch auf die Schuldentragfähigkeit in einigen Mitgliedstaaten achten muss (also weniger unabhängig agieren kann als die Fed).

  1. Der Markt für Finanzierungen und Transaktionen erholt sich im vierten Quartal leicht

Der Markt für Unternehmenstransaktionen wird durch zwei wesentliche exogene Variablen getrieben, die momentan entgegengesetzt wirken: die Kosten für Buy-out-Finanzierungen und das den Investoren und ihren Fonds zur Verfügung stehende Kapital (Dry Powder). Während sich die Verfügbarkeit von Buy-out-Finanzierungen, also die Bereitschaft der Banken, Übernahmen zu finanzieren, und die damit verbundenen Kosten in Form der Finanzierungszinsen, weiterhin als schwierig erweisen, so verfügen die institutionellen Anbieter (Private Equity) gleichwohl noch immer über enorme Summen an zugesagtem Kapital (> 3 Bio. USD).

Wir gehen davon aus, dass sich zunächst beide Effekte die Waage halten werden, dass sich aber ab dem vierten Quartal der „Appetit“ nach Neuinvestments graduell erhöhen wird, und zwar stark differenziert nach Branchen. Software und Fintech werden voraussichtlich ihren Peak aus dem Jahr 2021 auf absehbare Zeit nicht mehr sehen, während Healthcare- sowie Infrastrukturinvestments wieder attraktiver werden. Immobilieninvestitionen hingegen sind in einigen Märkten (wie Deutschland) nahezu zum Erliegen gekommen.

  1. Der Cashflow gewinnt dauerhaft an Bedeutung

Seit der Finanzkrise 2008 war die Bedeutung von verfügbarer Liquidität in Unternehmen nicht so hoch wie seit Mitte 2022. Unternehmensberater berichten einen sprunghaften Anstieg der Anfragen im Hinblick auf Liquiditätsplanung und Working-Capital-Optimierung. Selbst ehemals grundsolide deutsche Mittelständler mit hoher Eigenkapitalquote, bei denen die Verfügbarkeit von Liquidität per definitionem nie infrage stand, erkundigen sich heute nach Möglichkeiten zur Stärkung der Eigenfinanzierung.

Drei wesentliche Stellhebel zur Sicherstellung der Stabilität

Der mittelständische Unternehmer sieht sich nun angesichts dieser fehlenden Planbarkeit mit vielfältigen Variablen mit der Herausforderung konfrontiert, seinen internen und externen Anspruchsgruppen gleichwohl einen Ausblick auf die künftige geschäftliche Entwicklung zu geben und die Finanzierung des Unternehmens abzusichern: „If you fail to plan, you are planning to fail.“ Aus unserer Erfahrung ergeben sich zur Sicherstellung der Stabilität des Unternehmens und der finanzwirtschaftlichen Unabhängigkeit drei wesentliche Stellhebel:

  1. Liquiditätsplanung und Cash Management – rollierende direkte 13-Wochen-Planung mit regelmäßigen Plan-Ist-Abweichungsanalysen, standardisiertes periodisches Reporting, Minimierung des Working Capital;
  2. Contingency-Planung und Szenarioanalyse – Variabilisierung der wesentlichen Treiber des Unternehmenserfolgs, Abbildung von Real-Case- und Worst-Case-Szenarien sowie Darstellung der Sensitivität der Treiber in Bezug auf die Änderung exogener Einflussfaktoren, bis hin zu Notfallplänen im Falle existenzieller Risiken;
  3. Konsistentes anspruchsgruppenspezifisches Reporting – unternehmens- und sektorspezifisches Kennzahlensystem, zusammengefasst in einem standardisierten Dashboard, idealerweise über Power BI (Geschäftsanalysedienst von Microsoft) zielgruppenindividuell visualisiert.

FAZIT

Das Licht am Ende des Tunnels ist kurz- bis mittelfristig durchaus real – die langfristigen Herausforderungen, mit denen sich mittelständische Unternehmen im Hinblick auf flexible Planung, Cash Management und Working-Capital-Effizienz konfrontiert sehen, jedoch ebenfalls.


Dieser Beitrag ist im Sonderteil “Krisenbewältigung” der Unternehmeredition- Magazinausgabe 2/2023 mit Themenschwerpunkt “Unternehmensfinanzierung” erschienen.

Autorenprofil
Johannes Steinel

Johannes Steinel, diplomierter Volkswirt, ist Partner bei Eight Advisory, einer unabhängigen europäischen Unternehmensberatung für Transaktionen, Transformationen und Restrukturierungen.

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