Ist ein Insolvenz-Tsunami zu erwarten?

Insolvenzen werden 2023 zunehmen - aber die befürchtete Welle fällt wohl aus

Die Jahre 2020 bis 2022 werden als das große Pleiten-Paradoxon in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Eine Krise folgt der nächsten und die Zahl der Insolvenzen fällt ins Bodenlose – vor allem in Deutschland. Seit Monaten wird nun mit einer „Welle“ an Insolvenzen gerechnet. Wir haben Branchenexperten nach ihrer Einschätzung gefragt.
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Die Jahre 2020 bis 2022 werden als das große Pleiten-Paradoxon in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Eine Krise folgt der nächsten und die Zahl der Insolvenzen fällt gleichzeitig ins Bodenlose – vor allem in Deutschland. Seit Monaten wird nun mit einer „Welle“ an Insolvenzen gerechnet. Wir haben Branchenexperten nach ihrer Einschätzung für das bevorstehende Jahr gefragt.

Prof. Dr. Lucas F. Flöther; Flöther & Wissing Rechtsanwälte
Prof. Dr. Lucas F. Flöther; Foto: Flöther & Wissing Rechtsanwälte

Im Prinzip gibt es ein recht einheitliches Meinungsbild, denn die „große Welle“ erwartet niemand. Es kommen im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahren zwar mehr Anfragen herein, aber eine große Welle ist nicht in Sicht. Prof. Dr. Lucas Flöther, Partner bei Flöther & Wissing Rechtsanwälte und Vorsitzender des Gravenbrucher Kreises weist darauf hin, dass er nicht über eine „Glaskugel“ verfügt, merkt aber an: „Aber ich rechne schon damit, dass es eine Zunahme der Insolvenzzahlen geben wird. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Spätfolgen der Coronapandemie lassen das erwarten. Schon jetzt bemerken wir eine starke Zunahme größerer Insolvenzen in manchen Branchen.“

Dr. Mathias Hofmann; Foto: Pohlmann Hofmann
Dr. Mathias Hofmann; Foto: Pohlmann Hofmann

Auch Dr. Matthias Hofmann von der Kanzlei Pohlmann Hofmann hat in den vergangenen Wochen durchaus gemerkt, dass etwas mehr Unternehmen den Weg zum Insolvenzgericht gehen. „Von einer Welle sind wir aber meilenweit entfernt und ich sehe eine solche auch im Jahr 2023 nicht auf uns zurollen. Trotzdem werden wir voraussichtlich wieder mehr Insolvenzen sehen in vielen Bereichen, angefangen von Einzelhandel und Konsum bis hin in den Automotivebereich.“ Michael Schmitt, Partner bei Hanse Consulting meint: „Historisch betrachtet gab es noch nie ein Zusammentreffen so vieler exogener Krisenfaktoren. Der aus meiner Sicht jedoch schwerwiegendere Faktor sind die endogenen Krisenfaktoren. Krisenunternehmen haben es viele Jahre lang versäumt, ihre Geschäftsmodelle, interne Organisation und Prozesse den neuen Anforderungen anzupassen. Billiges Geld und staatliche Subventionen ließen sie im ´Status quo´ verharren. Dies rächt sich jetzt. Eine Insolvenzwelle sehe ich jedoch aktuell nicht. Restrukturierungsfälle werden sicherlich wieder auf ein „übliches“ Niveau ansteigen und sich dort auch die nächsten Jahre bewegen.“

Prof. Dr. Georg Streit; Foto: © Heuking Kühn Lüer Wojtek

Nach Ansicht von Prof. Dr. Georg Streit, Partner bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, müsste man normalerweise im kommenden Jahr eine Insolvenzwelle erwarten: „Der ´Cocktail´ aus Nachwirkungen der Pandemie, Zinswende, Lieferkettenproblematik und dramatisch gestiegenen Energiekosten, Inflation sowie steigenden Kosten im Personalbereich ist als ´multidimensionale Krise´ außerordentlich giftig für die Unternehmen. Andererseits hat sich die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren als beeindruckend widerstandsfähig erwiesen. Dies ist auch dem entschlossenen Eingreifen des Staates mit Wirtschaftshilfen und gesetzlichen Lockerungen im Bereich des Insolvenzrechts geschuldet. Auch im nächsten Jahr werden diese Instrumente noch wirken, sodass wir wohl keine Insolvenzwelle, jedenfalls aber ein weiteres Ansteigen der Insolvenzzahlen zu erwarten haben“.  Dabei ist wichtig, dass der Staat auch den rechtzeitigen Ausstieg aus Hilfsprogrammen und Eingriffen in das Insolvenzrecht findet, sodass wir alsbald zur Normalität zurückfinden. Marc-André Kuhne von der Kanzlei dkr diekmann kuhne raith rechnet zwar mit einem Anstieg der Insolvenzen, auf moderatem Niveau: „An eine echte Insolvenzwelle glaube ich nicht mehr. In den letzten Jahren folgte eine Krise auf die nächste Krise, die nur mit noch mehr Geld aus öffentlicher Hand zugeschüttet wurde. Obwohl eine Marktbereinigung überfällig ist.“

Dr. Christoph Niering, Partner bei Niering Stock Tömp Rechtsanwälte und Vorsitzender des Verbands Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), erwartet keine große Insolvenzwelle, aber einen Anstieg der Unternehmensinsolvenzen und damit einen weiteren Schritt in Richtung Normalisierung des Insolvenzgeschehens: „Denken Sie daran, dass wir 2009 nach der Finanzkrise bei 33.000 Unternehmensinsolvenzen, im Jahr 2019 bei rund 19.000 und im letzten Jahr bei nicht einmal 15.000 Unternehmensinsolvenzen lagen. Selbst ein Anstieg auf diesem schwachen Niveau um 10, 20 oder vielleicht sogar 30% führt noch lange nicht zu einer Insolvenzwelle.”

Dr. Maximilian Pluta
Dr. Maximilian Pluta; Foto: Pluta Rechtsanwalts GmbH

Dr. Maximilian Pluta, Managing Partner der Pluta Rechtsanwalts GmbH, findet, dass man nicht von einer Insolvenzwelle sprechen kann: „Es darf nicht vergessen werden, dass der Anstieg von einem niedrigen Niveau aus beginnt. In den vergangenen Jahren gab es historisch betrachtet wenige Insolvenzverfahren. Wir haben also Aufholeffekte, und jetzt trifft es viele Firmen besonders durch die Energiekrise. Daher steigen die Insolvenzen, aber es ist noch keine Insolvenzwelle, vielmehr wird man sich langsam auf ein Niveau zubewegen, wie es vor der langen Niedrigzinsphase einmal vorherrschte.“

Christian Plail
Christian Plail, Foto: Schneider Geiwitz

Christian Plail, Partner bei Schneider Geiwitz Restrukturierung, findet eine verlässliche Prognose schwer: „Ich persönlich glaube nicht an die große Insolvenzwelle. Es wird partiell einen Anstieg der Verfahren geben, aber das ist eher ein Aufholen der unnatürlich niedrigen Zahlen der letzten Jahre. Krisenindikatoren gibt es genügend. Inflation, Lieferengpässe, Arbeitskräftemangel, Energiekosten, Ukrainekrieg mit dem Wegfall ganzer Märkte und weitere Faktoren. Hier erfolgt eine starke Kompensation durch staatliche Maßnahmen.“

Detlef Specovius; Foto: Schultze & Braun

Detlef Specovius von Schultze & Braun sieht neben der Multi-Dauerkrise eine Vielzahl von weiteren individuellen Herausforderungen für Unternehmen: „Zwei Beispiele: Die staatlichen Hilfspakete während der Coronakrise haben viele Unternehmen vor einer existenziellen finanziellen Schieflage gerettet und die Insolvenzen auf einem niedrigen Niveau gehalten. Nun steht allerdings bei vielen Unternehmen die Rückzahlung von gewährten Überbrückungshilfen an. Die Rückforderung von Coronahilfen kann jedoch dazu führen, dass viele Unternehmen dadurch und durch die andauernden Krisen in eine finanzielle Schieflage geraten und die Zahl der Insolvenzen stark zunimmt. Zudem wird bei vielen krisengebeutelten Unternehmen derzeit das in der Pandemie beantragte und bewilligte Kurzarbeitergeld überprüft.“

Georg Bernsau; Foto: TMA
Georg Bernsau; Foto: TMA

Dr. Georg Bernsau, TMA-Vorstandsmitglied und Partner bei KL Gates sagt zur anstehenden Entwicklung: „Eine Insolvenzwelle 2023 ist insbesondere aufgrund der außergewöhnlich hohen Inflationsbelastungen, der aktuellen Konsumzurückhaltung und des schwierigen Finanzierungsmarktes sehr wahrscheinlich. Wie hoch diese Welle am Ende sein wird, lässt sich unseres Erachtens momentan nicht seriös abschätzen.“

 

Tillmann Peeters
Tillmann Peeters, Foto: Falkensteg

Tillmann Peeters, Gründungspartner von FalkenSteg bemerkt bislang keine „Welle“ aber ein relevantes Anziehen der Fallzahlen: „Vermutlich erleben wir eine Rückkehr zu Werten vor der Coronapandemie. Dass es die niedrigsten Insolvenzzahlen in einer der schwersten Krisen gibt, das kapiert man nicht.“ Dr. Utz Brömmerkamp, Geschäftsführer bei der Plenovia GmbH sieht den Begriff der „großen Insolvenzwelle“ als relativ, da sich die Insolvenzzahlen bereits vor der Pandemie aufgrund der jahrelangen stabilen Konjunktur auf einem vergleichsweise niedrigen Stand bewegt haben. „Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von einer Welle sprechen wollte, so wirkte eine solche doch eher wie ein (marktbe)reinigendes Gewitter und wäre ein Schritt in die Normalität.  Die Krisenindikatoren sind vielschichtig. Sicherlich leidet die Wirtschaft noch unter den Coronanachwehen. Hinzu kommen die nicht zuletzt durch den Ukrainekrieg verursachten Lieferengpässe und Preissteigerungen insbesondere im Energiesektor, garniert mit einer längst überfälligen Zinssteigerung und wachsender Inflation. Dieser bunte Strauß von Krisenindikatoren macht im Übrigen derzeit jede Businessplanung zu einer Gleichung mit vielen Unbekannten, manchmal auch zu einem Vabanquespiel.“

Jürgen Sonder
Jürgen Sonder, Foto: BKS eV

Jürgen Sonder, Präsident der Bundesvereinigung Kreditankauf und Servicing meint: „Aufgrund der restriktiven Geldpolitik der EZB stehen für mich die sogenannten Zombieunternehmen im Fokus eines erhöhten Ausfallrisikos. Diese hatten schon in Zeiten üppiger Liquidität Probleme mit der Schuldentilgung und müssen nun parallel zu einem höheren Zinsaufwand signifikante Steigerungen für Energie und Material aufwenden. Die Kapitaldienstfähigkeit und eine ausreichende Schuldentragfähigkeit sind hier mehr als gefährdet. Erste Zuwächse bei Insolvenzen von Großunternehmen konnten wir bereits verzeichnen. Kreditausfälle im größeren Stil sind bisher nicht zu sehen, doch bei den Kreditausfällen gewerblicher Immobilienforderungen und kleiner und mittlerer Unternehmen gab es im dritten Quartal 2022 laut European Banking Authority Anstiege. Zudem melden viele Banken bereits, dass die internen Risikoampeln auf gelb oder rot springen. Auch wenn die Verbraucherinsolvenzen sich gegenüber 2021 verringert haben, sind im Bereich der Konsumenten erste Warnsignale erkennbar: ein Rückgang der Nachfrage nach Wohnimmobilienkrediten, eine sinkende Sparquote und mehr Rücklastschriften sowie verstärkt ausgeschöpfte Dispositionskredite. Dies zeigt auch das NPL-Barometer aus dem Dezember 2022.“

Jan Hendrik Groß; Foto: Ebner Stolz
Jan Hendrik Groß; Foto: Ebner Stolz

Jan Hendrik Groß von Ebner Stolz geht auch nach wie vor nicht davon aus, dass die große Insolvenzwelle kommt: „Der Gesetzgeber trägt das seine dazu bei, dass die Insolvenzantragspflichten weitestgehend zurückgedrängt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass allen Ortens Krisenindikatoren gegeben sind. Letztlich drehen sich bei vielen Unternehmen die Kennzahlen ins Negative vom Absatz über die Produktionsleistung und die Kosten bis hin zu den Finanzierungscovenants. Wir verzeichnen allerdings deutlich mehr Beratungsanfragen. Die Nervosität in der Wirtschaft wächst.“

Jan-Erik Gürtner; Foto: Helbling
Jan-Erik Gürtner; Foto: Helbling

Jan-Erik Gürtner, Geschäftsführer bei Helbling Business Advisors kann sich vorstellen, dass die Insolvenzfälle 2023 vielleicht wieder das Vorkrisenniveau erreichen könnten: „An vielen Stellen werden derzeit Unternehmen noch durch Hilfsprogramme und den erleichterten Zugang zur Kurzarbeit unterstützt. In einigen Bereichen könnten die Insolvenzen vielleicht überdurchschnittlich ansteigen – in der Gesamtbetrachtung ist eine Welle aber nicht zu erwarten. Die Frage ist auch, wie die Unterstützungsprogramme wegen der hohen Energiekosten wirken.“

Dr. Brömmekamp, Foto: Plenovia GmbH

Wir haben auch nach den Branchen gefragt, die in diesem Jahr besonders stark von Insolvenzen betroffen sein könnten. Marc-Andre Kuhne sieht Unternehmen, die mit der Immobilienbranche zu tun haben in Gefahr – also Bauunternehmer, Projektentwickler, Makler aber auch Handwerker. Daneben auch Firmen, die besonders intensiv Energie verbrauchen. Prof. Georg Streit rechnet damit, dass die Branchen betroffen sein werden, die „zinsempfindlich“ und „energieintensiv“ sind. Dr. Utz Brömmekamp geht auch davon aus, dass energieintensive Branchen besonders leiden werden. Vermehrt würde er auch Anfragen aus dem Gesundheitssektor, der Baubranche und aus dem Maschinenbau erhalten. Aber letztlich würden seiner Meinung nach vor allem solche Unternehmen betroffen sein, die in den letzten Jahren ihr Risikomanagement vernachlässigt und infolgedessen existenzbedrohende Krisen zu spät erkannt haben.

Dr. Christoph Niering, NIERING STOCK TÖMP Rechtsanwälte GbR
Dr. Christoph Niering, NIERING STOCK TÖMP Rechtsanwälte GbR

Dr. Christoph Niering geht davon aus, dass sich ab dem Frühjahr die stark abschwächende Baukonjunktur auch auf die Unternehmensinsolvenzen auswirken dürfte. Der Baubranche würden gerade die Aufträge wegbrechen. Im Zuge des Umbaus zur E-Mobilität sieht er auch weitere Fälle bei Automobilzulieferern, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Und auch das Thema Krankenhäuser in der Fläche wird seiner Meinung nach weiterhin aktuell sein. Dr. Stephan Gellrich, Senior Adviser (M&A Advisory), Grant Thornton geht davon aus, dass die Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen von Faktoren wie Produktionsausfällen, Inflationsentwicklung sowie von der Rohstoffknappheit und -preisentwicklung abhängt. In einzelnen Sektoren wie im stationären Einzelhandel und bei Automobilzulieferern sei 2023 voraussichtlich ein Anstieg von Insolvenzen zu erwarten.

Fazit

Die Insolvenzverwalter und Restrukturierer werden 2023 wieder mehr Arbeit bekommen. Aber ein Insolvenz-Tsunami bricht nach aktueller Lage der Dinge nicht über die deutsche Wirtschaft herein. Eher pendeln sich die Pleitezahlen wieder auf einem normalen Niveau ein. Lesen Sie im ersten Teil des Artikels, wie die Experten das Jahr 2022 erlebt haben.

Autorenprofil

Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.

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