Das vergangene Jahr könnte auf den ersten Blick als rekordverdächtig gelten, wenn es um die Entwicklung bei den Insolvenzzahlen geht. Zuwachsraten im zweistelligen Bereich ist man in Deutschland nicht mehr gewohnt. Wir haben mit einigen Experten aus der Restrukturierungsbranche darüber gesprochen, wie sie die aktuelle Lage und die kommende Entwicklung einschätzen. Lesen Sie heute den ersten Teil.
In den abgelaufenen zwölf Monaten gab es große und spektakuläre Insolvenzverfahren wie die Pleite des mittlerweile verhafteten Immobilieninvestors Rene Benko oder den Niedergang des milliardenschweren Reisekonzerns FTI. Bereits zum dritten Mal in kürzester Zeit stand die Kaufhauskette Galeria vor dem Insolvenzrichter. Das ist nur eine Auswahl der großen Fälle. Insgesamt stieg die Zahl der Unternehmensinsolvenzen laut Creditreform um 24% auf voraussichtlich 22.400. Das ist einerseits ein deutlicher Zuwachs und der Wert liegt auch über den Zahlen vor der Corona-Pandemie mit ihren zahlreichen Erleichterungen im Insolvenzrecht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese absoluten Fallzahlen immer noch weit unter den Werten der Finanzkrise liegen. Damals mussten weit annähernd 40.000 Firmen einen Insolvenzantrag stellen.
Es ist eine Normalisierung
„Es wird einen weiteren Anstieg geben. Der wird sich aber nicht zu einem Insolvenz-Tsunami aufbauen. Ein nicht geringer Anteil dieses Anstiegs ist nämlich darauf zurückzuführen, dass die Politik in Coronazeiten die Insolvenzanmeldepflicht teilweise ausgesetzt hatte“, kommentiert Prof.Dr. Lucas F. Flöther von Flöther & Wissing Insolvenzverwaltung die Entwicklung. Auch Christian Plail, Partner bei Schneider Geiwitz Restrukturierung geht davon aus, dass der Trend steigender Insolvenzfallzahlen weiter anhält: „Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sich während und auch nach der Pandemie die Anzahl der Insolvenzverfahren auf einen historischen Tiefstand bewegt haben, sodass wir es derzeit eher mit einem Nachholeffekt als mit einer Insolvenzwelle zu tun haben“. Von einer „Rückkehr zur Normalität bei den Fallzahlen“ spricht auch Dr. Florian Harig, Partner bei Anchor Rechtsanwälte.
Insolvenzzahlen wachsen 2025 weiter
„Trotz der bereits hohen Zahl von Restrukturierungsfällen ist ein weiterer Anstieg der Fallzahlen zu erwarten“, sagt Dr. Rainer Bizenberger, Co-Leiter des Facharbeitskreises Restrukturierungsberatung der TMA Deutschland und Partner bei AlixPartners. „Für die erfolgreiche Überwindung der Krise wird es für die Unternehmen weiterhin darauf ankommen, nicht nur geeignete Maßnahmen zu definieren, sondern auch deren Umsetzung abzusichern“, ergänzt Bizenberger mit Hinweis auf die TMA Herbstumfrage zum Restrukturierungsmarkt. Grant Thornton-Partner Rainer Wilts hat festgestellt, dass trotz konjunktureller Schwächen und negativer Einflüsse seit der Corona-Pandemie wie dem Ukrainekrieg, temporären Versorgungsengpässen, Inflation und Zinsanstieg die Anzahl der bekannt gewordenen Unternehmenskrisen und Insolvenzen längere Zeit noch auf vergleichsweise niedrigem Niveau blieb. „Inzwischen nehmen die Krisenfälle deutlich zu, insbesondere auch in strukturell geschwächten Branchen wie Automotive, stationärer Handel oder Maschinenbau. Ein Ende dieser Entwicklungen ist nicht in Sicht, eher ist eine weitere Zunahme von Krisenfällen zu erwarten“, fügt Rainer Wilts, Partner im Geschäftsbereich Advisory bei Grant Thornton in Deutschland, an.
Mit einem Wachstum der Insolvenzzahlen rechnet auch Dr. Christoph Niering, Partner von NIERING STOCK TÖMP und Partner mbB Rechtsanwälte und Vorsitzender des Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID): „Ich rechne 2024 mit etwa 22.500 Unternehmensinsolvenzen. Der Höchststand im Jahr 2004 lag bei fast 40.000 Unternehmensinsolvenzen. Trotz aller Unkenrufe werden wir auch im Jahr 2025 nur einen vergleichsweise moderaten Anstieg, aber weiterhin keine Höchstwerte wie 2004 oder 2008/2009 sehen.“ Michael Ferber, Gründungspartner Falkensteg und Restrukturierungsexperte, erklärt zur anstehenden Entwicklung: „Bei den Großinsolvenzen (Umsatz über 10 Mio. EUR) sind die Insolvenzen um rund 31% von 279 auf 364 Fälle gestiegen. Für das nächste Jahr rechnen wir mit einem weiterem Plus von etwa 20 bis 25%.“
Welche Branchen haben besonders zu kämpfen?
„Die Krisenfaktoren des vergangenen Jahres waren steigende Energiepreise, die Kaufzurückhaltung der Verbraucher sowie der allgemeine Fachkräftemangel. Diese werden sich auch 2025 fortsetzen mit den entsprechenden Konsequenzen für die betroffenen Branchen. Ein Sonderfaktor ist die kriselnde Autoindustrie, die insbesondere durch die Konkurrenz aus China weiter unter Druck gerät“, erklärt Anchor-Partner Dr. Florian Harig. Eine besondere Krisenanfälligkeit sieht die TMA Deutschland für das bevorstehende Jahr in den Branchen Automotive, Baugewerbe, Handel, Industriegüter und Konsumgüter.
Ähnlich lautet die Analyse von Prof. Lucas Flöther: „Betroffen werden zum einen die Branchen sein, die bis vor Kurzem noch wettbewerbsfähig waren, z.B. die Bauindustrie, Immobilienunternehmen oder Automobilzulieferer. Bei diesen sind die Insolvenzen zu einem nicht geringen Teil auf die konjunkturelle Entwicklung zurückzuführen. Und es gibt Branchen, die durch strukturelle, seit Jahren andauernde Veränderungen Insolvenzen erzeugen. Das betrifft insbesondere den Einzelhandel, aber auch bestimmte Industriebranchen, die der Globalisierung nicht standhalten.“ Hinzu kommt laut Flöther die Gesundheitsbranche, insbesondere die Krankenhäuser. Hier seien die Ursachen überwiegend in politischen Entscheidungen zu suchen. Christian Plail meint: „Aktuell stelle ich vermehrt Insolvenzanträge im Einzelhandel fest. Hier kommen die inflationären Tendenzen, die Zinslandschaft und die damit verbundene Kaufzurückhaltung der Konsumenten zum Tragen. Strukturelle Probleme in der Automobilindustrie wirken sich zusehends bei den Zulieferfirmen negativ und existenzbedrohend aus.“
Michael Ferber hat festgestellt, dass die Insolvenzen besonders stark bei den Automobilzulieferern und im Immobilienbereich angestiegen sind. Diese beiden Sektoren hätten dann andere Branchen wie Maschinenbau, Elektrotechnik, Kunststoff und Gießereien mit in die Krise gezogen. Im Immobilienbereich hätten sich im Jahresverlauf die Insolvenzen von den Projektentwicklern auf die Bauunternehmen und die nachgelagerten Gewerke verlagert. „Die Gründe sind vielfältig. Das politische Vakuum in Deutschland und die Hiobsbotschaften der kommenden US-Administration sind Gift für die deutsche Exportwirtschaft und die Konsumlaune. Zudem machen teure Energie, viel Bürokratie und hohe Steuern den Standort Deutschland unattraktiv und verhindern in vielen Branchen die erforderliche Transformation“, erklärt Ferber.
Woran erkennt ein Unternehmer die Krise?
Wie kann man rechtzeitig eine Unternehmenskrise erkennen und im besten Fall vermeiden? Werden die Warnsignale zu häufig übersehen? Dr. Christoph Niering hat hier eine eindeutige Meinung: „In der Regel reagieren Unternehmer erst bei Eintritt massiver Liquiditätsengpässe. Dann ist es meist zu spät. Überholte Geschäftsmodelle, fragile Kunden- und Lieferbeziehungen, überalterte Personalstruktur, keine Weitergabemöglichkeit von Kostensteigerungen usw. sind nur einige der wesentlichen Warnsignale.“ Die Ursachen für eine Unternehmenskrise sind nach seiner Ansicht breit gestreut und je nach Branche und Geschäftszuschnitt unterschiedlich gewichtet. Entscheidend sei aber, das eigene Geschäftsmodell und die unternehmerischen Rahmenbedingungen permanent kritisch zu hinterfragen. Und er hat einen weiteren Ratschlag: „In keinem Fall sollte man auf das Prinzip Hoffnung setzen.“
Wenn der Betrieb Marktanteile verliert und bei den Kunden eine Kaufzurückhaltung spürt, dann sind dies für Anchor-Partner Dr. Harig bereits entscheidende Signale. „In der Folge drohen rückläufige Ergebnisse bis hin zu einem negativen Jahresergebnis. Sind die internen Probleme des Unternehmens bereits so weit fortgeschritten, dann drohen in der Folge Zahlungsschwierigkeiten und schließlich bekommt man Waren nur noch gegen Vorkasse.“ Dann seien der Firma quasi die Hände gebunden und es drohen Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. Spätestens, wenn das Unternehmen eine Kaufzurückhaltung der Kunden bemerke, sollten Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Dabei könnten auch branchenerfahrene externe Experten einen wertvollen Beitrag leisten. Grundsätzlich seien laut Prof. Lucas Flöther auch die rechtlichen Rahmenbedingungen zu beachten: „Hier ist vor allem die positive Fortführungsprognose zu nennen. Demnach müssen Unternehmen gut planen und stets in der Lage sein, in den nächsten zwölf Monaten ihren Zahlungsverpflichtungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachzukommen.“ Wenn die Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten ist, sei es für Sanierungsmaßnahmen in aller Regel zu spät.
Wie können sich Zulieferer schützen?
Im Falle eine Unternehmensinsolvenz sind in vielen Fällen die Vorlieferanten betroffen, wenn sie auf ihren Forderungen sitzenbleiben – egal ob mit Warenkreditversicherung oder ohne. In der Zeit um sich greifender Krisen kann es entscheidend sei, auf die richtigen Signale zu achten. „Wenn Zahlungsziele verpasst werden oder es eine Anfrage nach einer Ratenzahlung gibt, dann ist bereits höchste Vorsicht geboten“, erläutert Harig weiter. Frühe Signale könnten sein, dass im Gegensatz zu früher nicht mehr ein Skonto gezogen wird oder wenn nur noch das Nötigste bestellt wird. „Ein aktiver Blick auf die Bestellungen der Kunden kann frühzeitig Hinweise liefern“, rät Harig.
Wie gelingt eine Sanierung vor einer Insolvenz?
Wie kann eine Unternehmenssanierung gelingen, bevor dann eine Insolvenz droht? Alexander Griesmeier, ebenfalls Partner im Geschäftsbereich Advisory bei Grant Thornton in Deutschland schlägt folgende Maßnahmen vor: „Als ersten Schritt zur Abwendung einer Insolvenz hat sich die Bestandsaufnahme der Unternehmenssituation in Form eines ´Quick Checks´ bewährt. Mit diesem stark methodengestützten Instrument kann sehr schnell eine Basis für erste Sofortmaßnahmen geschaffen werden.“ Dazu gehörten unter anderem die Working Capital-Optimierung zur Schaffung neuer Finanzierungsmöglichkeiten. Nach einer ersten Stabilisierung sei anschließend eine ganzheitliche Revitalisierung des Unternehmens möglich. „Entscheidend sind dabei umfassende Erfahrungen im Bereich Turnaround-, Projekt- und Projektportfolio-Management sowie in vielen Fällen eine Stärkung der Finanzfunktion des Unternehmens“, fährt er fort.
Dr. Niering erneuert den Tipp für Unternehmer, den Sanierungsexperten gebetsmühlenartig seit Jahrzehnten wiederholen: „Es ist frühzeitiges und aktives Handeln gefragt. Dann besteht die Möglichkeit mit den wesentlichen Beteiligten außergerichtliche Lösungen zu entwickeln. Banken, Lieferanten und Vermieter sind dann die ersten Ansprechpartner.“ Auch nach Ansicht von Prof. Flöther ist das Timing bei einer Unternehmenssanierung entscheidend. Es hänge ganz entscheidend davon ab, in welcher Krisenphase sich das betroffene Unternehmen befindet. Ob in einer Strategiekrise, einer Ertragskrise oder einer Liquiditätskrise: „Während beispielsweise in einer Strategiekrise den betroffenen Unternehmen noch zahlreiche Gegenmittel zur Verfügung stehen, sind die Möglichkeiten in einer Liquiditätskrise sehr begrenzt. Entscheidend ist es, in den Zustand der positiven Fortführungsprognose zurückzukehren. Wie ich das als Unternehmer anstelle, das ist im Einzelfall zu prüfen.“ Jeder Firmenlenker müsse seine Finanzen im Griff haben, wettbewerbsfähige Produkte anbieten können und über Strukturen verfügen, um sich veränderten Marktbedingungen jederzeit anpassen zu können. Das klinge banal, aber der Großteil von Unternehmensinsolvenzen werde laut Flöther dadurch verursacht, dass diese Bedingungen nicht erfüllt sind.
Rolle der Gläubiger hat sich geändert
Spätestens mit der Einführung des ESUG und dem Eigenverwaltungsverfahren hat sich der Einfluss von Gläubigern auf den Ablauf von Insolvenzverfahren geändert. Eine Entwicklung, die sich mit dem StaRUG weiter fortgesetzt hat. „In Paragraf 1 der Insolvenzordnung heißt es, dass ein Insolvenzverfahren dazu dient, die Gläubiger eines insolventen Unternehmens gemeinschaftlich zu befriedigen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde der Einfluss der Gläubiger auf das Verfahren gestärkt. Sie entscheiden über die Verfahrensart und über die Person des Verwalters. Zwar können in diesen beiden neueren Verfahrensarten Minderheitengläubiger auch überstimmt werden. Das benachteiligt sie aber nicht wirklich im Vergleich zu den anderen Gläubigern“, erklärt dazu Prof. Flöther.
Durch das ESUG habe sich laut Dr. Maximilian Pluta, Managing Partner der PLUTA Rechtsanwalts GmbH und Geschäftsführer der PLUTA Management GmbH, die Mitwirkung bei der Auswahl und Prüfung der Verfahrensart und die Vertretung im Gläubigerausschuss deutlich verbessert: „Das vergleichsweise neue StaRUG gibt zusätzlich die Möglichkeit, dass die Forderungen einzelner Gläubigergruppen restrukturiert werden – auch unter Einbeziehung von Anteilsrechten.“ In der Praxis findet laut Pluta das StaRUG besonders dann Anwendung, wenn ein Unternehmen höhere Finanzverbindlichkeiten restrukturieren möchte. Nach Meinung von Anchor-Partner Dr. Harig hat sich insgesamt der Einfluss seitens der Gläubiger verstärkt. Das äußere sich auch darin, dass seitens dieser Gruppe vor einem Verfahren auch Einfluss genommen wird bei der Auswahl des Sanierers.
Im zweiten Teil des Artikels setzen wir uns vor allem mit den Entwicklungen in der Restrukturierungsbranche und den neuen Herausforderungen auseinander.