Kaum ein Trend hat das Transaktionsgeschäft in den letzten Jahren so massiv beeinflusst wie „Environmental, Social, Governance“ (ESG). Nach einem beispiellosen Aufstieg kehrt spätestens seit Anfang 2025 Ernüchterung ein, und es stellt sich die Frage, welche Relevanz ESG-Kriterien in Zukunft (noch) für Deals haben werden. Ist ESG tot? Bei nüchterner Einordnung lautet die Antwort: Nein – aber ESG ist im Wandel vom dogmatischen Kerntreiber zur pragmatischen Nebenbedingung.
Speziell in den Jahren 2020 bis 2023 erlebte ESG einen enormen Bedeutungsanstieg, insbesondere getrieben durch regulatorische Impulse wie die EU-Green-Deal-Ziele und gerade in Deutschland einen Fokus auf die aktive Transformation von Energieinfrastruktur und Wirtschaftsstruktur. Zielsetzung auf allen Ebenen war die Ausrichtung auf eine mutmaßlich nachhaltige Wirtschaftsstruktur mit klaren Wachstumsperspektiven für Unternehmen mit entsprechendem ESG-Profil, jedoch auch steigenden Restriktionen bei mangelnder ESG-Compliance.
Nahezu alle relevanten Stakeholder im Transaktionsgeschäft richteten entsprechend Fokus und Entscheidungsprozesse neu aus:
- Fondsinvestoren machten ihre Mittelallokation vom ESG-Profil der Fonds abhängig.
- Finanzierer machten Finanzierungsentscheidungen und -strukturen von ESG-Parametern abhängig.
- Investoren (ob Private- oder Public Equity) konzentrierten ihren Investitionsfokus auf Unternehmen mit starkem ESG-Profil.
- ESG Due Diligence wurde zur kritischen Pflichtaufgabe.
Letztlich wurde für Unternehmen aller Branchen zunehmend klar, dass nur mit ausreichend positivem ESG-Profil überhaupt noch nennenswerte Handlungsoptionen an den Transaktionsmärkten bestehen.
Der Fokus im Rahmen der ESG-Analyse lag dabei lange auf dem „E“, also den umweltbezogenen Charakteristika, und dort häufig auf „Headline-Themen“ wie Antriebstechnologie, Energiespeicherung und Einbindung erneuerbarer Energien. „S“ und „G“ wurden häufig mit entsprechenden „Leitlinien“, „Roadmaps“ und repräsentativen Einzelmaßnahmen adressiert.
Zumindest hinter vorgehaltener Hand hörte man allerdings auch zu den Hochzeiten des ESG-Booms bereits Kritik und Zweifel: insbesondere von Unternehmen, die im schlimmsten Fall ihre Geschäftsmodelle infrage gestellt sahen, sich zumindest aber signifikantem Zusatzaufwand aus ESG-Reporting und DD ausgesetzt empfanden; auch aber von Investoren und Finanzieren, die Zweifel hatten, ob der massive Fokus auf ESG zumindest in der Gewichtung angemessen ist.
Das tat dem Hype aber keinen Abbruch – die zunehmend strikteren regulatorischen Vorgaben und das klare öffentliche Bekenntnis nahezu aller kritischen Marktteilnehmer zu einer harten ESG-Ausrichtung machten es de facto für die meisten Unternehmen und Investoren unmöglich, sich dem ESG-Trend zu entziehen.
Neubewertung im Kontext von Marktentwicklung und Prioritäten
Im Ergebnis hat sich der Hype mittlerweile deutlich abgekühlt. In den USA verzeichneten ESG-Fonds 2024 Nettoabflüsse von über 13 Mrd. USD, in Europa wurden im ersten Quartal 2025 erstmals seit 2018 Nettoabflüsse registriert. Während noch im Jahr 2024 die erfolgreiche ESG Due Diligence eine der kritischsten Voraussetzungen im Private-Equity-Fundraising-Prozess waren, berichten Private-Equity-Manager heute, dass der Fokus von Limited Partners (LPs; Fondsinvestoren) sich massiv verschoben hat und nun klar auf Renditepotenziale abstellt, die möglichst nicht durch übermäßige ESG-Kosten oder Nebenbedingungen limitiert werden sollten.
Grundlage für diese Entwicklung sind verschiedene Faktoren, welche gleichermaßen die Neubewertung von ESG-Kriterien treiben als auch von dieser getrieben werden:
- Der Krieg in der Ukraine sowie die insgesamt gestiegenen geopolitischen Unsicherheiten haben zu einer massiven Umbewertung der politischen Prioritäten geführt, welche durch die Regierungswechsel in den USA und Europa weiter verstärkt wird. Diese wiederum reflektieren auch eine veränderte Position in weiten Teilen der Gesellschaft und damit Wählerbasis.
- Die wirtschaftliche Entwicklung, speziell in Deutschland, ist weiterhin schwach, und diverse ESG-Headline-Themen haben sich eben (noch) nicht als Wachstumstreiber bestätigt, sondern sind mit einem unsicherem Ausblick und diversen Restrukturierungsfällen konfrontiert.
- Die Bewertung von Relevanz und Nachhaltigkeit verschiedener Geschäftsmodelle ist aufgrund der unsicheren Rahmenparameter derzeit im Fluss: „Klassische“ ESG-Fokus-Segmente wie Elektromobilität, Batterietechnologie und erneuerbare Energien unterliegen einer massiven Neubewertung – Verteidigungstechnologien sowie klassische Antriebstechnologien erleben aktuell ein bis vor Kurzem noch unerwartetes Revival.
- Das Transaktionsumfeld ist generell weiter herausfordernd, und gerade Private Equity gerät zunehmend unter Druck, auch außerhalb eines extrem eng gesteckten Kriterienkorridors gute Investments umzusetzen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat sich sowohl die Haltung vieler Marktteilnehmer als auch die von Politik und Regulierungsinstitutionen mittlerweile fühlbar verändert. Während einige Stimmen ESG sogar für „tot“ halten, ist zumindest unstrittig zu konstatieren, dass der Hype beendet ist und auch die offiziellen Rahmenbedingungen einer Neubewertung unterzogen werden.
Ausblick auf eine neue Normalität
Trotz Ernüchterung und Neubewertung: Die grundlegende Frage nach der Nachhaltigkeit von Geschäftsmodellen und Organisationsstrukturen bleibt – ebenso die darauf abzielenden umfangreichen regulatorischen Vorgaben. Beides wird nicht vollständig hinterfragt oder gar abgeschafft werden – die Auslegung von „Nachhaltigkeit“ sowie Umfang, Komplexität und Detailvorgaben der Regulierung werden aber gegebenenfalls einer kritischen Prüfung unterzogen.
Für 2025 und die Zukunft zeichnet sich daher derzeit eine differenziertere Betrachtung von ESG-Faktoren im Transaktionsgeschäft ab:
- Die übersimplifizierte Einordnung von Geschäftsmodellen in ESG-Kategorien sowie eine weitgehend dogmatische Berücksichtigung von ESG-Faktoren für Dealentscheidungen und Dealstrukturen werden realistisch massiv an Bedeutung verlieren.
- Die Regulierung wird sich erwartungsgemäß den veränderten (geo)politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten zumindest dahin gehend anpassen (müssen), dass weitere Vorgaben kritisch hinterfragt und wesentliche Leitplanken der Regulierung zumindest in einigen Aspekten eher gelockert werden.
- ESG-Compliance, ESG Due Diligence und ESG-Reporting werden aber im Rahmen der weiterhin verbleibenden umfangreichen regulatorischen Anforderungen sicherlich gerade aus Risikoperspektive auch zukünftig eine erfolgskritische Rolle für Transaktionsprozesse spielen.
- Mit Blick auf Ertrags- und Wachstumspotenziale wird erwartungsgemäß eine differenziertere Neubewertung der einzelnen Nachhaltigkeitsfaktoren erfolgen, die mehr auf kritische Risiken und Chancen im Wettbewerbsumfeld als formelle regulatorische Ziele und Schlagwortthemen abstellt.
Gerade mit Blick auf den letzten Punkt ist allerdings nicht zu erwarten, dass es zu einer vollständigen „Rückabwicklung“ entscheidender Branchentrends kommt: Energieeffizienz wird auch ohne ESG-Hype ein zentraler Werttreiber bleiben, trotz aktueller Diskussionen über eine Anpassung des Verbrennerverbots wird sich der Automotive-Markt massiv in Richtung E-Mobilität transformieren, und trotz aller Herausforderungen bei der Energiewende werden Energiemix und Energieinfrastruktur einen massiven Wandel durchlaufen müssen. Auch Social- und Governance-Aspekte werden zukünftig weiter eine erhöhte Bedeutung haben und im Kontext der steigenden Herausforderungen bezüglich Fachkräftemangel, Arbeitsmarktentwicklung und Arbeitseffizienz erfolgskritische Aspekte für nachhaltig erfolgreiche Unternehmensstrukturen sein.
FAZIT
Nach mehrjährigem Hype um das Thema „ESG“ rücken nach deutlicher Ernüchterung nun Realismus und Pragmatismus in den Vordergrund. Die übergeordnete Zielsetzung hat dabei weiterhin Bestand: Geschäftsmodelle sollen möglichst nachhaltig aufgestellt sein und der Transaktionsmarkt sollte sich klar auf entsprechend nachhaltige Unternehmen fokussieren. „Nachhaltigkeit“ muss dabei jedoch auf nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg abstellen, der entsprechend kritische Regulierung und formelle Anforderungen zwar klar berücksichtigt, nicht jedoch einzig und dogmatisch von diesen definiert wird.
👉 Dieser Beitrag ist auch in der Magazinausgabe der Unternehmeredition 3/2025 erschienen.