Die deutsche Wirtschaft leidet aktuell unter Lieferengpässen und Ressourcenknappheit. Langfristig könnte sich die Lage wieder stabilisieren. Doch wie können betroffene Unternehmen kurzfristig agieren, um die gravierenden Folgen in den kommenden Monaten aufzufangen? Wir haben Robert Leonhardt, Mitglied der Geschäftsleitung von Helbling Business Advisors, nach seiner Einschätzung gefragt.
Unternehmeredition: Laut einer Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau fürchten Mittelständler immer weniger Einbußen durch Corona, sondern durch die anhaltenden Lieferengpässe. Ist das tatsächlich so?
Robert Leonhardt: Ich war in den letzten Wochen viel auf Foren und Messen unterwegs und habe mich dort mit zahlreichen Firmenvertretern unterhalten. Summa summarum zeigt sich, dass wir in einer Situation sind, die es so vorher noch nie gab. Während der Coronakrise oder auch während der Finanzkrise 2008/2009 brach einseitig die Demand-Seite weg. Als das Containerschiff Ever Given im Suezkanal feststeckte, brach einseitig die Supply-Seite weg. Jetzt aber sind bei vielen Unternehmen beide Seiten gleichzeitig betroffen, d.h. die Demand-Seite, aber auch die Supply-Seite sind instabil. Die Unternehmen haben auf beiden Seiten zu kämpfen, genau das macht die aktuelle Situation so besonders. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, man kann hier keine allgemeine Aussage treffen. Es gibt Mittelständler, denen es nach wie vor gut geht und die Ihre Ergebnisse erreichen werden. Genauso aber gibt es Unternehmen, die schon sehr bald ums Überleben kämpfen müssen, weil sie massiv sowohl von der Demand- als auch der Supply-Seite her betroffen sind. Ein Beispiel hierfür sind die mittelständischen Automobilzulieferer.
Wie hat dieses Problem den Mittelstand bisher belastet?
Ein solches Problem gab es in dieser Form bislang nicht. Niemand konnte sich somit auf eine solche Situation vorbereiten. Daher ist auch der Mittelstand hiervon betroffen. Allerdings sehen wir aktuell ein sehr gemischtes Bild. Vielen Mittelständlern geht es gut und Sie können sehr viel mehr verkaufen, auch wenn sie nicht in gewohnter Schnelligkeit Material geliefert bekommen. Diese Unternehmen fahren selbst bei höheren Einstands- und Logistikpreisen Umsatz- und Ergebnisrekorde ein. Es gibt aber auch Mittelständler, denen es deutlich schlechter geht. Sie bekommen ihre Komponenten nicht geliefert, müssen zudem höhere Logistikkosten in Kauf nehmen und die OEMs geben ihnen nicht die Chance die gestiegenen Kosten weiterzureichen. Diese Unternehmen haben Probleme zu überleben und müssen zusehen, wie sie ihre Liquiditätsprobleme lösen können.
Heißt das, einige Branchen können das besser kompensieren als andere?
Die Automobilbranche war 2019/2020 ohnehin schon in der Krise. Dadurch hat sie die aktuelle Situation noch stärker getroffen.
Dem Consumer-Bereich, Anbietern von Heizgeräten, Lüftungen, weißer Waren wie Waschmaschinen oder Geschirrspüler, aber auch der Bau- und Bauzulieferbranche hingegen geht es gut. Branchen wie Maschinenbau, Elektronik oder IT erfreuen sich einer hohen Nachfrage und können die Engpässe auf der Supply-Seite deutlich besser kompensieren. Es gibt zudem verschiedene Wege, um an Rohstoffe zu kommen. So kann zum Beispiel versucht werden, alternative Bezugsquellen aufzutun. Einige Unternehmen nutzen beispielsweise die Möglichkeit ihre Kleinteile, z.B. zur Bestückung von Leiterplatten oder auch Granulate, über Broker einzukaufen, wenn auch zu einem deutlich höheren Preis. Auch der Einsatz von recycelten Materialien ist in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Thema geworden.
Auch für die Papierindustrie ist es derzeit schwierig. Einer stark beeinträchtigten Rohstoffzufuhr stehen Kaufverträge gegenüber, die auf lange Dauer angelegt sind. Aus diesem Grund können die gestiegenen Preise auch nicht kurzfristig an die Kunden weitergereicht werden.
Mit welchen Fragen wenden sich betroffene Unternehmen an Sie als Beratungshaus?
Es gibt zum einen Unternehmen, die in Ertragsschwierigkeiten sind und nach Lösungen suchen, um ihre Liquiditäts- und Ertragssituation zu verbessern. Wir beraten aber auch Unternehmen, denen es gut geht, die aber gerne noch besser oder resilienter werden wollen.
Starten wir mal mit den Problemfällen. Was raten Sie Unternehmen, die derzeit akute Probleme mit Lieferengpässen haben und in Liquiditätsschwierigkeiten stecken?
Früher galt, man solle die Bestände runterfahren und global zum niedrigsten Preis sourcen. Heute geht der Trend genau in die andere Richtung. Die Lösung liegt zum einen im Bestandsmanagement. Dabei stellt man sich Fragen wie z.B.: Welche Unsicherheit muss ich absichern? Wie hoch ist der Bestand? Wo lege ich mir einen strategischen Bestand hin? Wo muss ich den Bestand erhöhen? Das ist ein sehr strukturierter Ansatz, bei dem wir unsere Kunden begleiten. Hier geht es darum, sich durch intelligentes Bestandsmanagement einen strategischen Vorteil zu verschaffen und Unsicherheiten aufgrund der volatilen Nachfrage durch einen höheren Bestand und erhöhten Lieferservice auf der Supply-Seite auszugleichen.
Das bedeutet aber, dass ich dafür in Vorleistung gehen muss.
Das ist richtig. In der Regel muss man sich dabei fremdfinanzieren und die Kreditlinie erhöhen. Wir beraten die Unternehmen auch dabei, wie man das bei dem jeweiligen Kapitalgeber am besten verargumentiert und die Risiken absichert. Unterstützend erstellen wir Analysen, die belegen, dass sich die Vorfinanzierung in einen langfristigen Erfolg und die vorhandenen Bestände in einen Abverkauf umwandeln.
Welche weiteren Lösungsansätze gibt es?
Ein zweiter Ansatz ist der Bereich Absatz- und Nachschubplanung. Dabei wird die Nachfrage des Marktes für die nächsten drei bis 18 Monate analysiert und anhand statistischer Methoden und künstlicher Intelligenz, der Bedarf für den Mittelfristhorizont ermittelt. Mit diesen Informationen kann der Einkäufer dann bspw. auf seinen Lieferanten zugehen und klären, ob bei ihm ausreichend Kapazitäten vorhanden sind oder ob alternative Lieferanten aufgebaut werden müssen. Ziel ist es, sowohl bei den Produktions- und Mitarbeiterkapazitäten flexibler zu werden. So lassen sich beispielsweise Mitarbeiter durch Maßnahmen wie Arbeitnehmerüberlassung, Gleitzeitkontenregelung, Sondervereinbarungen, Schichtmodelle und Kurzarbeit flexibel einsetzen.
Das Zauberwort heißt also Flexibilität und Agilität.
Seien wir doch mal ehrlich: die Situation, die wir jetzt haben, wird irgendwann gelöst sein, aber es werden immer wieder neue Probleme auftauchen. Unternehmen müssen sich jetzt darauf einstellen, viel flexibler und noch besser agiler zu werden, und zwar in allen Bereichen, von den Prozessen über die Strukturen bis hin zu den Mitarbeitern.
Wie kommt es, dass diese Problematik derzeit gerade so kumuliert? Liegt das an Corona?
Da sind viele Faktoren einfach zusammengekommen. Nehmen wir Themen wie den Handelsstreit mit China, die Globalisierung, die Kapazitätsengpässe in fast allen weltweiten Häfen oder die im Suezkanal festgefahrene Ever Given, das ist nicht alles nur auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, vieles steht Spitz auf Knopf. Corona ist nur ein Auslöser unter Vielen.
Haben Sie noch weitere kurzfristige Lösungsansätze in petto?
Wichtig ist es, entlang der gesamten Wertschöpfungskette transparent zu sein und regelmäßig Informationen auszutauschen. Prozesse müssen schlanker werden, um flexibel und agil zu sein. Um effizient zu werden muss zudem auch der Ressourceneinsatz des Personals überprüft und entsprechend angepasst werden. Auch die Senkung von Lohn- und Fertigungskosten bietet entsprechendes Potenzial. Materialpreise lassen sich derzeit schlecht verhandeln, das ist klar. Aber es besteht die Möglichkeit auf der Materialverbrauchsseite Kosten zu reduzieren, indem man über einen alternativen Materialeinsatz nachdenkt. Gerade im Kunststoffbereich gibt es viele ähnliche Materialien, die sich substituieren lassen, auch wenn es dafür einer Sonderfreigabe durch den Kunden bedarf.
Riskiert man dabei nicht Qualitätseinbußen?
Natürlich birgt so ein alternativer Materialersatz immer ein gewisses Risiko. Das gilt auch für alternative Materialbeschaffung wie den bereits genannten Weg über Broker. Es ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden, wenn man von den gewohnten Prozessen abweicht. Es gibt aber Spezifikationen, durch die sich die Toleranzgrenze genau festlegen lässt. Gangbare Wege sind, die Toleranzgrenze maximal auszunutzen, die Ausschussquote zu reduzieren und die Recyclingquote zu erhöhen.
Kann es helfen, sich nachhaltiger und digitaler aufzustellen, um die aktuellen Engpässe zu überwinden?
Viele Industrien haben das vor Jahren schon gemacht und ihre Margen durch Einsparung von Ausschüssen ausgeschöpft. Investieren in ESG und Digitalisierung ist eine langfristige Angelegenheit, das greift nicht als schnelle Maßnahme. Viele Unternehmen versuchen jetzt zum Beispiel von China nach Europa zurück zu sourcen, und viel mehr lokal zu produzieren. Es gibt auch eine Reihe von Maßnahmen, mit denen sich die Mitarbeitereffizienz und Produktionsabläufe weiter optimieren lassen.
Laut ifo-Umfrage werden die Lieferengpässe noch etwa zehn Monate andauern. Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?
Ich gehe davon aus, dass die aktuelle Krise nicht vor 2023 vorüber sein wird. Ich habe erst gestern mit dem Vice President Sales eines Motorenherstellers gesprochen. Dort ist man sehr verzweifelt, weil sie ihre Kapazitäten nicht hochfahren und damit bald auch nicht mehr liefern können. Zudem droht absehbar auch noch ein Mangel an Magnesium, ein Werkstoff, ohne den kaum eine moderne Automobilproduktion umsetzbar ist. In einem PKW stecken bis zu 200 Kilo Aluminium, aber ohne einen gewissen Anteil an Magnesium ist Aluminium für die Automobilindustrie nicht zu gebrauchen. 95 Prozent des in Europa genutzten Magnesiums kommt aus China. Die Volksrepublik verfügt über mehr als 80 Prozent der globalen Magnesiumproduktion. Dort allerdings wird derzeit weniger produziert, zum Teil steht die Produktion sogar ganz still, um die Vorgaben der Zentralregierung in Sachen Klimaschutz zu erreichen.
Ich gehe auch davon aus, dass es im nächsten Jahr noch diese Probleme auf der Supply-Seite geben wird. Und es wird viele Firmen geben, die geplante Investitionen weiter zurückhalten oder stoppen und abwarten werden, wie sich der Markt entwickelt. Das ist das eine. Ich glaube auch, dass es einen hohen Beratungsbedarf bei den Themen Transformation und Turnaround geben wird. Viele Unternehmen müssen schnellstmöglich damit beginnen ihr Geschäftsmodell zu hinterfragen und sich neu auszurichten, bevor es u.a. zu Ertrags- und Liquiditätsproblemen kommt. Meine Empfehlung ist es in jedem Fall, nicht zu abzuwarten bis sich ggf. etwas ändert, sondern rechtzeitig und proaktiv zu handeln. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir häufig eingeschaltet werden, wenn es schon fast zu spät ist. Um jedoch weiter fortbestehen zu können lohnt es sich ehrlich gegenüber sich selbst zu sein, um frühzeitig zu reagieren und sich rechtzeitig Hilfe zu suchen.
Welchen Anteil macht das Thema an Ihrem Gesamtportfolio aus?
Wir spüren, dass viele Firmen derzeit schon verstärkter umdenken und sich bemühen präventiv zu handeln. Sie haben in der Vergangenheit wenig in den Bereichen Bestandsmanagement oder im Planungsbereich unternommen und kommen nun proaktiv auf uns als Beratungshaus zu. Value Chain Management ist ein großes Thema und aufgrund der Tatsache, dass viel Geld im Markt vorhanden ist, hat auch der Bereich M&A und Corporate Finance stark zugelegt. Auch der Bedarf an Turnaround- und Transformationsberatung hat wieder deutlich Fahrt aufgenommen.
Welche Perspektiven ergeben sich aus diesen Entwicklungen für den Bereich Unternehmensfinanzierungen und Mergers & Acquisitions?
Der M&A-Markt wird auch 2022 weiter zunehmen. Sowohl bei institutionellen als auch strategischen Investoren ist ausreichend Geld vorhanden. Gerade bei den Finanzinvestoren erreichen diese immer neue Rekordstände. Damit wächst auch deren Anlagedruck. Wir gehen davon aus, dass nahezu alle Branchen von Fusionen und Übernahmen betroffen sein werden. Besonders in der Automobilzuliefererindustrie aber auch im Bereich MedTech, getrieben durch die seit Mai geltende MDR, wird es attraktive Investitions- oder Zukaufmöglichkeiten geben. Aber auch in den anderen Branchen ist gerade viel Bewegung drin.
ZUR PERSON
Robert Leonhardt ist als Mitglied der Geschäftsleitung bei Helbling Business Advisors zuständig für den Bereich Value Chain Management. Die in Deutschland und der Schweiz ansässige Beratungsgesellschaft berät und begleitet mittelständische Unternehmen und Konzerndivisionen bei allen komplexen Herausforderungen betreffend Value Chain Management, Digitalisierung, Mergers & Acquisitions, Corporate Finance, Restrukturierung und Turnaround sowie Strategie.
Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.