„Die EZB erkauft sich eine teure Ruhe“

Unternehmeredition: Sowohl die Wirtschafts- und Finanzkrise als auch die damit zusammenhängende Euro-Staatsschuldenkrise wurde von Banken- und Regierungskreisen verursacht, im Falle Griechenlands kommt noch Misswirtschaft und Korruption hinzu. Dennoch muss die Bevölkerung Europas die höchsten Lasten tragen – in Griechenland bekommt eine Familie mit einem Jahreseinkommen von 18.000 EUR demnächst kein Kindergeld mehr. Können Sie die Wut und das Unverständnis der Bevölkerung verstehen? Wie beurteilen Sie den Faktor Zeit, um gewisse Mentalitäten und Reformen durchzusetzen?
Ostermann:
Der Faktor Zeit spielt eine wesentliche Rolle. Nicht nur in Griechenland, sondern auch in Deutschland leben wir seit über drei Jahrzehnten über unsere Verhältnisse. Während meines gesamten Lebens habe ich noch keinen ausgeglichenen deutschen Haushalt erlebt. Wir machen immer mehr Schulden und geben mehr aus, als wir einnehmen. Das zu ändern, braucht natürlich Zeit; umso schlimmer finde ich, dass die Regierungen bis heute kein schlüssiges Konzept für geordnete Insolvenzen haben, sowohl für Banken als auch für ganze Staaten. Auch hier möchte ich wieder das Beispiel der Familienunternehmer anbringen: Auch sie machen Fehler, tragen dafür aber selbst die Konsequenzen und gehen im schlimmsten Fall in die Insolvenz. Das muss auch in der Politik und im Finanzwesen möglich sein.

Unternehmeredition: Im Falle Griechenlands ist ja nun schon viel Zeit verstrichen, passiert ist dennoch nicht viel. Wie sollte man hier vorgehen?


Ostermann:
Grundsätzlich sollten in Europa Rettungsmaßnahmen immer nur in Verbindung mit Gläubigerbeteiligung gewährt werden, damit das wichtigste Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, die Einheit von Risiko und Haftung, wieder überzeugend gelebt wird. Im Fall von Griechenland dürfen die vereinbarten Bedingungen nicht weiter aufgeweicht werden. Durch das immer weitere Gewähren von Kapital und Zeit – und dass, obwohl Griechenland die Vereinbarungen bei Weitem nicht erfüllt – geht die Glaubwürdigkeit der Geberländer verloren. Wenn Griechenland nun doch mehr Erleichterungen bekommt, ist das für Spanien und Italien gewiss kein Anreiz, weitere unpopuläre Reformen durchzusetzen. Je mehr Risiken Deutschland übernimmt, desto erpressbarer werden wir. Ich glaube, mit der Ankündigung der EZB, im Zweifelsfall unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, erkauft sich die Zentralbank eine teure Ruhe der Märkte, beseitigt aber nicht die Wurzel des Problems: Die dringende Einführung von Strukturreformen. Den aktuellen Kurs der EZB, der Politik durch billige Liquidität zur Seite zu springen, halte ich deshalb auch für fatal.

Unternehmeredition: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den Fiskalpakt, der ja vor allem auf Dringen Deutschlands an die Verabschiedung des ESM-Rettungsschirms gekoppelt wurde und bei einem Überschreiten einer festgesetzten Schuldengrenze sofort Strafmaßnahmen geltend macht?


Ostermann:
Grundsätzlich finde ich den Ansatz von Strafmaßnahmen bei Nichteinhaltung von Schuldenregeln oder Reformen natürlich richtig. Ich denke aber, der Fiskalpakt hält noch zu viele Schlupflöcher bereit. Zudem stellt er nur eine andere Version von Regeln dar, die zuvor vom Maastricht-Vertrag abgedeckt wurden, und auch an diese haben sich in der Vergangenheit die wenigsten gehalten. Ich denke, der einzige Weg zu nachhaltigem Handeln innerhalb der Euro-Zone ist die Gewissheit der Staaten, dass sie im Zweifelsfall für sich selbst haften müssen.

Unternehmeredition: Frau Ostermann, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Verena Wenzelis.
verena.wenzelis@unternehmeredition.de


Zur Person: Marie-Christine Ostermann
Marie-Christine Ostermann war von 2009 bis 2012 Bundesvorsitzende des Verbands „Die Jungen Unternehmer – BJU“ (www.junge-unternehmer.eu). Neben der ehrenamtlichen Tätigkeit ist sie geschäftsführende Gesellschafterin des Lebensmittelgroßhandels Rullko Großeinkauf GmbH & Co. KG in Hamm.

Autorenprofil

Verena Wenzelis war bis Juli 2016 Redakteurin bei der Unternehmeredition.

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