Der „perfekte Sturm“ wütet im Automotive-Sektor

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Seit Monaten kämpft die Automobilindustrie mit den Nachwehen der Coronakrise. Kaum war in Deutschland die Dieselkrise überstanden, da lähmte die weltweite Pandemie die Absatzmärkte. Und nun, da die Konjunktur wieder anspringt, da fehlen wichtige Komponenten zum Bau der begehrten Fahrzeuge. Bei einigen Modellen beträgt die Lieferzeit schon mehr als anderthalb Jahre.

Für die Hersteller – die sogenannten OEMs – stellen die Lieferkettenprobleme eine große Herausforderung dar, denn die Nachfrage für Fahrzeuge ist vorhanden. In erster Linie fehlen Computer-Chips, die für die eine Vielzahl von Steuerungen im Fahrzeug notwendig sind. Geschockt und gelähmt von der Corona-Krise hatten Hersteller und Zulieferer ihre Chip-Bestellungen erst einmal heruntergefahren und als die Weltwirtschaft wieder an Fahrt aufnahm, mussten die Unternehmen feststellen, dass andere Branchen die freien Kapazitäten für sich nutzten. Hinzu kamen zunehmende Probleme mit Kapazitäten für den Transport. Im Ergebnis mussten die Hersteller gerade in Deutschland ihre Produktion deutlich herunterfahren – bis hin zur zeitweisen Stilllegung ganzer Werke. Bis zu elf Millionen Fahrzeuge sollen in diesem Jahr weltweit weniger gebaut werden, wie noch im Januar prognostiziert.

Kurzarbeit hilft den großen Konzernen

Die Konzerne hatten als hilfreiche Lösung für diese Minder-Auslastung das Instrument der Kurzarbeit. Die Bundesregierung hatte nach dem Beginn der Pandemie den Zugang durch ein deutliches Absenken der Kriterien wesentlich erleichtert. Während große Konzerne trotz der sogenannten „Chip-Krise“ mit guten Geschäftszahlen glänzen konnten – unter anderem ermöglicht durch die Kurzarbeiter-Regelung – gibt es seit dem Sommer bei vielen Automobilzulieferern große Probleme- bis hin zur Pleite. Innerhalb weniger Wochen verabschiedete sich ein knappes Dutzend Unternehmen in die Insolvenz – teilweise klassische Verfahren – teilweise in Eigenverwaltung. Wir sprachen mit zwei Experten der Automotive-Branche über die aktuelle Situation und die Aussichten für die Zukunft. So viel sei schon jetzt verraten: Kurzfristig ist keine Entspannung der Lage in Sicht.

Der „perfekte Sturm“

Für einige Automobilzulieferer in Deutschland hat sich die Chipkrise zu einem „perfekten ausgewachsenen Sturm“ entwickelt. „Zum Beginn des Sommers 2021 war eigentlich eine deutliche Steigerung von Abrufen und Produktion zu erwarten. Die Chipkrise war damals nur ein Gerücht und viele Zulieferer haben ihrerseits Vorbestellungen und Produktion hochgefahren. Dann gab es im Spätsommer plötzlich eine dramatische Lageveränderung“, erklärt Jochen Wierz, Partner bei Falkensteg. Eigene hohe Bestellungen, gesteigerte Produktion mit entsprechenden Kosten, volle Lager und dann aber fehlende Abrufe durch die Autokonzerne: Die Folge sind gebundenes Kapital und fehlende Einnahmen – ein Horrorszenario für die Liquiditätslage. Die Planbarkeit für die Zulieferer habe in den vergangenen Jahren immer weiter abgenommen und die Profitabilität leide in vielen Fällen. Auf diese Weise würden strukturelle Schwächen immer stärker erkennbar.

Viele Zulieferer litten schon unter dem „Diesel-Gate“

„Bei der Betrachtung der aktuellen Situation solle man nicht vergessen, dass der Sektor durch z.B.  Diesel-gate und einige andere bedeutende strukturelle Veränderungen bereits stark unter Druck geraten war . Es gab fast zehn Jahre Boom nach der Finanzkrise – da passt man kaum Strukturen an. Und nun gibt es gleich zwei schwere Krisen nacheinander“, erklärt Markus Mühlenbruch, Partner bei Ebner Stolz. Bereits in 2019 gab es Auswirkungen des Brexits und besonders des andauernden Handelskriegs zwischen USA und China. Trotz der fraglos schwierigen Situation sehen beide Automotive-Experten allerdings derzeit nur vereinzelt Insolvenzen und noch keine breite Insolvenzwelle. Schließlich hätten auch die großzügigen Hilfsprogramme aus der Corona-Pandemie vielen Unternehmen geholfen und sicher auch die eine oder andere Insolvenz verhindert.

Automobilproduktion ist sehr komplex und kleinteilig

Die Schwierigkeiten in der Branche dürften allerdings nicht abnehmen. Aber warum ist das so? „Die Herstellung eines modernen Fahrzeugs ist inzwischen ein sehr komplexer Vorgang. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden in diesem Sektor eine einzigartige Lieferkette geschaffen, in der viele Zahnräder ineinandergreifen müssen“, sagt Wierz. Das sieht sein Kollege Mühlenbruch ähnlich, denn die Quote der Zulieferer an der Produktion liege jenseits der 70%. Die aktuellen Schwierigkeiten in den weltweiten Lieferketten würden schon außergewöhnliche Blüten treiben, indem beispielsweise dringend benötigtes Kupfer per Luftfracht aus China herbeigeschafft wird. Die Probleme der Zulieferer beschränken sich nach Einschätzung der beiden Experten nicht auf Deutschland, sondern seien in der ganzen Welt zu beobachten. Allerdings habe es einen zeitlichen Versatz gegeben, denn beispielweise traten große Probleme in den USA im Sommer des Jahres auf – hier läuft die Produktion mittlerweile aber wieder, gleiches gilt für China, nachdem dort im Besonderen die Beschränkungen für die Stromerzeugung weitgehend entfallen sind.

Das Problem in den Lieferketten hat sich nach Meinung von Mühlenbruch in Teilen auch selbst hochgeschaukelt: „Wenn Kunden von Lieferproblemen erfahren, und sie 5.000 Teile benötigen,  dann kündigen sie im Zweifel den  Bedarf von 10.000 an. So entsteht ein „virtuelles“ Volumen, dass eine entsprechende Nachfrage für die Lieferanten suggeriert. Nach seiner Beobachtung wird sich hier die Lage aber glücklicherweise bald normalisiert haben.

Wie könnte Hilfe aussehen?

Da es eine eng verzahnte Lieferkette gibt, wäre zu erwarten, dass Konzerne ihren in Not geratenen Zulieferern helfen. Das sei in einigen Fällen nach Beobachtung der beiden Experten auch schon passiert. Zahlungsziele würden angepasst, mehr Produkte abgenommen als eigentlich benötigt und die Verhandlungen lösungsorientiert geführt. Dies sei insbesondere bei ultrakritischen Teilen der Fall. Denn der Wechsel des Zulieferers sei auch für die Automobilkonzerne immer erst einmal mit hohen Kosten verbunden. Für eine konzertierte Aktion mehrerer OEMs gäbe es aber keine Möglichkeit: Wenn sich die Hersteller hier untereinander absprechen würden, dann drohen sofort Probleme mit dem Bundeskartellamt und es könnten saftige Strafen im Raum stehen.

Insgesamt ist nach Ansicht von Mühlenbruch und Wierz aber erkennbar, dass aktuell in Deutschland vor allem die Automobilzulieferer betroffen sind, die im Wesentlichen den deutschen Markt im Fokus haben. Internationaler aufgestellte Unternehmen würden aktuell deutlich besser dastehen. „Einfaches Produkt – einfacher Markt – nur ein Abnehmer – dann haben Sie unter Umständen ein ernstes Problem“, bringt es Wierz auf den Punkt. Und in einem solchen Fall könne dann auch die Kurzarbeit nicht mehr helfen.

Wie lange dauert die Krise?

Entwarnung geben die beiden Experten nicht: Sie rechnen mit einem Anhalten der Probleme mit der Lieferbarkeit von Chips und elektronischen Bauteilen bis zum zweiten Quartal 2022. Für weitere Unternehmen aus der Branche dürfte die Luft damit dünner werden. „Man braucht als Unternehmen eine höhere Resilienz“, rät Wierz. Das ist unter Umständen aber leichter gesagt als getan.

Mühlenbruch  sieht die Verlängerung der Kurzarbeiter-Regelungen in das Frühjahr des kommenden Jahres als ein wirksames Instrument: „Wenn wir eine solche Regelung wegen eines exogenen Schocks wie der Corona-Pandemie einführen, dann sollte die weltweise Chipkrise mit ihren starken Auswirkungen ähnlich beurteilt werden“, erläutert er. Es sei ein gutes  Mittel, um den Zulieferunternehmen die notwendige Flexibilität zu geben, um auf solche Krisen zu reagieren, ohne in großer Zahl Mitarbeiter zu entlassen. Das Know-how der Beschäftigten könnte dann für immer verloren gehen. Gleichwohl müsse man darauf achten, dass zwingend notwendige strukturelle Anpassungen in den Unternehmen nicht versäumt werden, denn sonst sei die Medizin der Kurzarbeit bald eher eine Droge, die der Industrie langfristig nicht gut täte.

Sind Autozulieferer noch verkäuflich?

Wenn dann doch der Krisenfall eingetreten ist und der Insolvenzverwalter die Geschicke leitet, dann stellt sich die Frage, ob sich noch Käufer für strauchelnde Automobilzulieferer finden. Hier antworten die beiden Experten mit dem Motto-Satz von Radio Eriwan: „Im Prinzip ja, aber“. Es sei wichtig, dass der Abnehmer der Teile mitspielt – in den meisten Fällen also ein Autokonzern. Zudem gäbe es die Verlustfinanzierung auch als Instrument. Schließlich könnten sich angesichts der anhaltenden Unsicherheit am Markt alle beteiligten „ein wenig Zeit lassen“ beim M&A-Prozess – so lange die Finanzierung bis dahin aufrechterhalten werden kann. Und am Ende sei es auch immer eine Frage des Preises. Die kommenden Monate dürften im Automotive-Bereich also spannend bleiben.

 


ZUR PERSON

Jochen Wierz
Jochen Wierz, Foto: Falkensteg

Jochen Wierz ist Partner sowie Automotive- und M&A-Experte bei Falkensteg, einer Beratungsgesellschaft mit den Schwerpunkten Distressed M&A, Debt Advisory, Restrukturierung und Real Estate.

 

 

 

 

 


ZUR PERSON

Markus Mühlenbruch
Markus Mühlenbruch , Foto: Ebner Stolz

Markus Mühlenbruch ist Restrukturierungsexperte und Partner bei den Management Consultants bei Ebner Stolz in Stuttgart. Er verfügt über mehr als 25 Jahre Sanierungserfahrung und ist ein ausgewiesener Experte in den Branchen Automotive, Maschinen- und Anlagenbau, in der Elektro- und Bau- sowie Bauzuliefererindustrie.

Autorenprofil

Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.

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