Vier Änderungen bei den Regelungen für die Insolvenzantragspflicht und ein völlig neues rechtliches Instrument zur Restrukturierung – die vergangenen Monate waren aufregend für Insolvenzverwalter und Restrukturierer. Wie haben sie diese Zeit erlebt? Wir haben sie gefragt.
Der 1. März 2020 war ein besonderes Datum für die deutsche Branche der Restrukturierer, Berater und Insolvenzverwalter. Ab diesem Tag wurde die Insolvenzantragspflicht für einen Großteil der Unternehmen in Deutschland ausgesetzt – und zwar bis Ende September. „Großteil der Unternehmen“ ist das passende Stichwort, denn eine komplette Aussetzung gab es bei genauerem Hinsehen nie – auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Eindruck entstand. Die Bedingung für die Aussetzung war, dass sich das Unternehmen vor der Coronapandemie nicht in einer Krisensituation befand und keine Verluste erwirtschaftete.
Paradoxe Situation in der Wirtschaft
In den folgenden Monaten bis zum 30. April dieses Jahres wurden die Zugangsvoraussetzungen zur Aussetzung der Insolvenzantragspflicht scheibchenweise immer weiter eingegrenzt. Diese ungewöhnlichen Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung zur Abmilderung der Auswirkungen der Coronakrise zeigten schnell Wirkung, und das, obwohl nach einer ersten Schätzung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) der wirtschaftliche Schaden in Europa rund 300 Mrd. EUR beträgt. Insgesamt meldeten laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr nur noch 15.840 Unternehmen Insolvenz an und damit rund 16% weniger als im Vorjahr – das ist der niedrigste Stand seit Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999.
Leichen von der Straße räumen
Und ein Ende dieser Entwicklung ist bis zum heutigen Tag nicht absehbar. Dieses Paradoxon einer schweren globalen Wirtschaftskrise und eines Sinkens der Anzahl an Firmenpleiten in Deutschland ist nur eine der Merkwürdigkeiten für die Branche, die eigentlich mit einer Menge Arbeit rechnen konnte. Sehr drastisch äußerte sich dazu Jörn Weitzmann, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Insolvenzrecht und Sanierung im Deutschen Anwaltverein (DAV): „Die Aussetzung der Insolvenzantragspflichten führt dazu, dass zahlungsunfähige und überschuldete Unternehmen andere anstecken und infizieren. Man bekommt die Cholera nicht aus der Stadt, wenn man die Leichen nicht von der Straße räumt.“
„Das war mein verrücktestes Jahr“
Fünf Änderungen bei der Insolvenzantragspflicht in einem Jahr, ein vollkommen neues Sanierungsinstrument seit Januar 2021 und stark sinkende Fallzahlen – da kommt man als Insolvenzverwalter schon ins Nachdenken: „Das war bisher mein verrücktestes Jahr – absolut außergewöhnlich. So etwas habe ich bisher in meiner 20-jährigen Laufbahn noch nicht erlebt. Ich stelle mir immer wieder die Frage: Wo sind die ganzen Unternehmen, die sonst Insolvenz angemeldet hätten?“, sagt Prof. Dr. Lucas F. Flöther, Vorsitzender des Gravenbrucher Kreises, eines Zusammenschlusses führender Insolvenzverwalter und Sanierungsexperten mit überregionaler Ausrichtung. Trotz der geringen neuen Fallzahlen wurde es ihm und seinem Team in den zehn bundesweiten Standorten der Kanzlei nicht langweilig. In der sich anbahnenden Krise war eine Vielzahl von insolvenzrechtlichen Beratungen zu verzeichnen, da sich Firmen vielfach über ihre Rechte und Pflichten in der außergewöhnlichen Situation informieren wollten. Weiterhin nutzte Prof. Dr. Flöther wie viele seiner Kollegen die Zeit, um bereits laufende Verfahren zu finalisieren und die Gerichte mit Abschlussberichten zu versorgen.
„Zahlen passen nicht zur allgemeinen Wirtschaftslage“
Von einer „turbulenten Zeit“ spricht auch Dr. Christoph Niering, Vorsitzender des Verbands Insolvenzverwalter Deutschlands (VID): „Eigentlich ist die Zahl der angemeldeten Insolvenzen ein Spiegelbild für die Entwicklung der Wirtschaft. Die aktuellen Zahlen passen überhaupt nicht zur allgemeinen Wirtschaftslage.“ Die zahlreichen staatlichen Hilfen, die erweiterten Möglichkeiten zur Nutzung der Kurzarbeit und die umfangreichen Steuerstundungen hätten zu einer Entlastung der Unternehmen in Deutschland geführt. Ein wichtiger Aspekt in der Krise sei auch gewesen, dass nicht nur die Insolvenzantragspflicht weitestgehend ausgesetzt war, sondern Gläubiger auch in ihren Möglichkeiten beschränkt wurden, gegen Schuldner einen Insolvenzantrag zu stellen. Das habe insbesondere für Finanzämter und Sozialversicherungsträger gegolten, die hier häufig aktiv werden.
Viel los war auch bei Jan-Erik Gürtner, Geschäftsführer Helbling Business Advisors und Partner der Helbling-Gruppe, denn zahlreiche Unternehmen fragten nach Rat bei der Bewältigung der ungewöhnlichen Krise. „Das war für uns keine leichte Aufgabe, denn wir mussten ein Gespür bekommen dafür, wie sich die Märkte entwickeln, wie die Reaktion der Kunden und Verbraucher aussieht – und das alles unter dem Einfluss immer neuer Entwicklungen der Virusinfektionen auf der ganzen Welt“, erklärt Gürtner, der gemeinsam mit die Service Line Business Transformation/Turnaround leitet. Unterbrochene Lieferketten sowie vielerlei andere negative Einflüsse auf Produktion und Vertrieb führten dazu, dass Budgets zu korrigieren waren und die Liquidität verbessert werden musste. „Für uns kam es in erster Linie darauf an, gemeinsam mit unseren Klienten in verschiedenen Szenarien zu denken und Handlungsoptionen zu entwickeln“, sagt Gürtner.
Missverständliche Kommunikation der Regierung
Wie zahlreiche andere Fachleute bemängelt Dr. Niering die lange Zeit schlechte Kommunikation der Bundesregierung während der immer neuen Änderungen im Insolvenzrecht. Dies hätte vielzählige Unternehmer fälschlicherweise darin bestätigt, dass sie keine Insolvenz anmelden müssen. „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Wer sich auf eine missverständliche Presseerklärung verlässt, der haftet trotzdem persönlich“, warnt Dr. Niering. So sieht das auch Tillmann Peeters, Gründungspartner und Geschäftsführer bei Falkensteg, denn wenn der Insolvenzantrag zu spät gestellt werde, dann drohe der Besuch vom Staatsanwalt wegen Insolvenzverschleppung oder Eingehungsbetrug. Er sieht aber noch einen weiteren Aspekt für zukünftige Probleme: „Viel problematischer könnten die zahlreichen Anfechtungsklagen der Verwalter werden, die bei verspäteten Anträgen drohen. Das dürfte kostspielig werden, denn alle Zahlungen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit können angefochten werden. Dafür muss der Unternehmer oder Geschäftsführer persönlich geradestehen.“
Wie geht es 2021 weiter?
Angesichts der weiter laufenden staatlichen Hilfsprogramme in diesem Jahr wagt Dr. Niering keine Prognose, ob es 2021 oder in den folgenden Jahren eine Insolvenzwelle geben wird: „Das weiß keiner genau und die Prognosen hängen vom jeweiligen subjektiven Blickwinkel ab.“ Zahlreiche Unternehmen hatten nach den Wirtschaftskrisen 2002 und 2009 mehr Eigenkapital aufgebaut und gingen dadurch stabiler in die aktuelle Krise. „Aber irgendwann sind diese Reserven aufgebraucht. Für viele wird der aktuelle Lockdown zu lange andauern, sie werden es nicht schaffen“, sagt Christiane von Berg, Coface-Volkswirtin. Laut einer Simulation von Coface hätten die Gesamtinsolvenzen im Jahr 2020 auf Grundlage des Konjunktureinbruchs um 6% gegenüber 2019 ansteigen müssen. In der Realität sind sie aber um 15,5% gesunken. Daher könnte ein Anteil von bis zu 21,5% (4.030 Insolvenzen) in der Pipeline stecken und sich 2021 und 2022 materialisieren. Eine andere Zahl kommt vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim: Durch die 2020 ausgebliebenen Insolvenzen könnte die Zahl der Fälle für 2021 auf mindestens 25.000 nach oben getrieben werden.
Großinsolvenzen bereits gestiegen
Auch wenn die Gesamtzahl der Insolvenzen in Deutschland 2020 rückläufig war, so sind in der Zeit der Coronapandemie die Fälle von Großinsolvenzen von Unternehmen mit mehr als 20 Mio. EUR Umsatz bereits stark gestiegen. 175 Großinsolvenzen im abgelaufenen Jahr bedeuten nach einer Auswertung von Falkensteg eine Zunahme von 43%. Ebenso stiegen die von einer Insolvenz betroffenen Arbeitsplätze über alle Unternehmensgrößen auf rund 332.000 Stellen (2019: 218.000). Auch die Schäden durch Insolvenzverfahren haben sich nach Schätzungen des Verbands der Vereine Creditreform im vergangenen Jahr um fast 50% von 23,5 Mrd. auf 34,0 Mrd. EUR erhöht.
Siegeszug des ESUG
Ganz still und leise hat sich das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) nach neunjähriger Gültigkeit zu einem echten Erfolgsmodell entwickelt. 2019 hatte der Anteil an Regelinsolvenzen noch 77% betragen, während 23% eine Eigenverwaltung beantragt hatten. In der Krise kehrte sich nach einer aktuellen Studie von Ebner Stolz das Verhältnis um: 2020 stieg der Anteil der Verfahren in Eigenverwaltung auf 41%. Auch im ersten Quartal 2021 blieb dieser Anteil konstant hoch. „Für mich ist das ESUG eine Erfolgsstory. Wir sehen inzwischen, dass die meisten großen Verfahren nach den neuen rechtlichen Möglichkeiten abgewickelt werden“, erklärt Prof. Dr. Flöther. Das sieht auch Dr. Niering so, der diese Entwicklung „sehr positiv“ findet. Diese neuen rechtlichen Möglichkeiten hätten dazu beigetragen, dass Insolvenzen nicht mehr zwangsläufig als ein persönliches Scheitern angesehen werden. Humoristisch merkt Prof. Dr. Flöther zudem an, dass das Wort „Schutzschirmverfahren“ inzwischen ähnlich wie „Kindergarten“ Einzug in die englische Sprache gefunden hat.
Aggressives Verkaufen schadet
Die Insolvenzexperten äußern jedoch auch warnende Worte, nämlich aufgrund häufig schlecht vorbereiteter ESUG-Verfahren. „Wir sehen immer wieder, dass das ESUG durch interessierte Berater aggressiv verkauft wird als Möglichkeit, sich von unliebsamen Verbindlichkeiten zu lösen. Dies führt oft zu einem Scheitern vor den Gerichten. Das schadet mehr, als es hilft“, erklärt Prof. Dr. Flöther. Gerade eine solide und langfristige Planung für eine Unternehmenssanierung unter Berücksichtigung der Gläubigerinteressen sei aber der Grundgedanke des ESUG.
Neue Sanierungsmöglichkeiten seit 2021
Als wären die vergangenen Monate nicht bereits aufregend genug für die Restrukturierungsbranche gewesen, so kam im Januar 2021 mit dem Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG) ein vollkommen neues Instrument für die Sanierung von Unternehmen hinzu. Die endgültigen Regelungen wurden zum Ende des vergangenen Jahres durch den Gesetzgeber mit hohem Tempo verabschiedet. Ähnlich wie auch bei der Einführung des ESUG im Jahr 2012 müssen sich Kanzleien, Berater und Gerichte noch an die neuen Regelungen gewöhnen. Aus der Branche wurden bislang knapp zehn erfolgreich abgeschlossene Verfahren berichtet – allerdings auch einige gescheiterte Versuche. Einen erfolgreich abgeschlossenen Fall schildern wir in diesem Heft ab Seite 78.
StaRUG wird kein Massenphänomen
„Das StaRUG wird sicher kein Massenphänomen“, sagt Prof. Dr. Flöther. Es sei ein sehr beratungslastiges und damit kostenintensives Verfahren und eigne sich auch aus diesem Grund nicht für kleinere Unternehmen. Weiterhin sei es keine leichte Aufgabe, die für ein solches Verfahren notwendige Zustimmungsquote bei den Gläubigern zu erreichen. Ein zusätzlicher Nachteil sei, dass sich das StaRUG im Prinzip nur für finanzielle Restrukturierungen eignet – es sei also ein klassischer „Haircut“. Es gebe keine einfache Möglichkeit für Anpassungen von Dauerschuldverhältnissen oder Änderungen bei der Belegschaft. Dies sei – durchaus zu Recht – den klassischen und streng regulierten Insolvenz- und Eigenverwaltungsverfahren vorbehalten.
Einen kritischen Blick auf die bisherigen StaRUG-Verfahren wirft VID-Vorsitz Dr. Niering. Er sieht es als problematisch an, dass Minderheitsgläubiger oder Gesellschafter aus heiterem Himmel von einem solchen Verfahren einfach überrascht werden können und dann nur wenig Zeit für die Reaktion haben. „Das ist schon eine schwierige Situation und man muss abwarten, ob sich hier ein Negativimage entwickelt.“ Als mögliche Lösung schlägt er ein zwingendes Vorgespräch mit dem Ziel einer Absprache oder einer Einigung vor. Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich das StaRUG ähnlich gut etablieren kann wie das ESUG.
Für Helbling-Geschäftsführer Gürtner ist das StaRUG nach gut sechs Monaten im Tagesgeschäft angekommen. „Wir haben die neuen rechtlichen Möglichkeiten bei uns immer als Option, wenn es um die Entwicklung von mittel- und langfristigen Szenarien geht“, sagt er. Grundsätzlich komme es immer darauf auf, das Geschäftsmodell eines Unternehmens weiterzuentwickeln und die jeweiligen Möglichkeiten zu prüfen. Als einen wichtigen Vorteil des StaRUG sieht er die gesetzliche Verankerung einer Krisenfrüherkennung durch das Management.
FAZIT
Von den Jahren 2020 und 2021 werden die Beteiligten der Restrukturierungsbranche noch ihren Urenkelkindern erzählen können: Selten müssen so turbulente Zeiten mit einer solchen Vielzahl von Unwägbarkeiten und derart unsicheren Prognosen gemeistert werden. Die kommenden Monate werden zeigen, ob wir in Deutschland einen Insolvenztsunami erleben oder nur eine kleine Welle. Zahlreiche Experten rechnen damit, dass nicht alle der großzügig ausgegebenen KfW-Kredite vollständig wieder zurückfließen. Mit dem StaRUG hat der Gesetzgeber den Unternehmen und Beratern ein neues Werkzeug dafür an die Hand gegeben.
Dieser Beitrag erschien in der Unternehmeredition 2/2021.
Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.