Der Kapitalmarkt bietet für mittelständische Unternehmen eine gute Möglichkeit zur Kapitalbeschaffung. Wir haben uns gefragt, warum dennoch nur wenige diese Gelegenheit nutzen, und sprachen darüber mit Stefan Maassen, Head of Capital Markets & Corporates von der Deutsche Börse AG.
Unternehmeredition: Herr Maassen, warum gehen vergleichsweise wenige Mittelständler an die Börse und was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit diese zahlreicher an den Kapitalmarkt gelockt werden?
Stefan Maassen: Die Gründe sind extrem vielschichtig und ein Stück weit auch historisch bedingt. Wir müssen mehr Verständnis dafür schaffen, dass nicht nur die Kapitalbeschaffung ein immenser Vorteil einer Börsennotierung ist, sondern dass damit auch zahlreiche andere Wettbewerbsvorteile einhergehen, zum Beispiel Mitarbeiterbindung und -gewinnung sowie Visibilität auch im internationalen Kontext. Hinzu kommt, dass sich die Vorteile einer Börsennotierung auch auf das Unternehmen insgesamt positiv auswirken, insbesondere hinsichtlich der Transparenz gegenüber Stakeholdern und Geschäftspartnern. Unternehmen erfahren durch einen Börsengang oftmals auch eine Professionalisierung, die sich positiv auf die Unternehmensentwicklung auswirken kann. Das alles sind Aspekte, die man als Mittelständler vielleicht nicht zwingend im Vordergrund sieht.
Global betrachtet muss man feststellen, dass die erfolgreichsten Unternehmen weltweit zu einem ganz überwiegenden Teil börsennotiert sind. Deshalb glaube ich, dass wir insbesondere auch im Mittelstand für die Vorteile einer Börsennotierung ein größeres Bewusstsein schaffen müssen. Natürlich bringt eine Börsennotierung auch Pflichten mit sich – aber richtig aufgesetzt und mit der richtigen Unterstützung von Kapitalmarktpartnern kann sie das Unternehmen auf eine neue Wachstumsstufe heben.
Deutschland ist ein Land, das sowohl bei der Vermögensbildung als auch der Finanzierung insgesamt eher fremdkapitalorientiert und risikoavers ist. Die Chancen einer stärkeren Inanspruchnahme des Kapitalmarkts vom Mittelstand liegen auch darin, dass durch eine Börsennotierung Vermögen diversifiziert werden kann und auch Kapital freigesetzt wird, das wiederum investiert werden kann – und zwar ins eigene Unternehmen, aber auch in die Wirtschaft allgemein.
Bleiben wir zunächst bei der Fremdkapitalorientierung. Dieses war lange Zeit sehr günstig durch das niedrige Zinsniveau – aber schon seit einiger Zeit sehen wir eine gegenläufige Entwicklung mit steigenden Zinssätzen. Fremdkapital ist in letzter Zeit außerordentlich teuer geworden. Erfährt die Börse dadurch einen neuen Schub?
Das wird ein Aspekt sein, der viele Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, dazu bewegen wird, sich über unterschiedliche Finanzierungsquellen Gedanken zu machen. Der Kapitalmarkt muss da aus unserer Sicht eine zentrale Rolle spielen. Viele Unternehmen, auch Mittelständler, haben sich in dem Niedrigzinsumfeld mittel- bis langfristig sehr gut finanziert, sodass es einen verzögerten Effekt geben wird, insbesondere wenn Refinanzierungen anstehen oder neue Investitionen geprüft werden. Natürlich hat es in den letzten zwei Jahren durch die Veränderungen im Zinsumfeld eine historische Entwicklung gegeben. Im ganzen Anlageuniversum, das heißt auch an den Kapitalmärkten, findet seit knapp zwei Jahren, nachdem Anfang 2022 von der Fed die Zinswende mit ersten Signalen eingeläutet wurde, eine Reallokation von Assets auf der Seite der institutionellen Investoren statt. Das hat zu einem insgesamt weniger aktiven IPO-Markt geführt. Die Erwartungen der Unternehmen und Eigentümer hinsichtlich der Bewertung und dem, was Investoren für Unternehmen zu bezahlen bereit sind, musste eine neue Balance finden. Das macht es gerade in einem Umfeld, in dem auch die Zinsentwicklung weiterhin ein Stück weit unsicher ist, für Unternehmen schwierig, auch noch ein IPO zu planen.
Sind dennoch positive Tendenzen zu verzeichnen?
Wir hatten dieses Jahr mit Schott Pharma ein Unternehmen, das sehr erfolgreich in Deutschland an die Börse gegangen ist. Ebenfalls in diesem Jahr haben diesen Schritt drei weitere Unternehmen gewagt, darunter thyssenkrupp nucera und Ionos. Wir sehen also eine leichte Wiederbelebung des IPO-Markts in einem herausfordernden Marktumfeld. Ähnlich sieht es in anderen Ländern aus, sowohl in Europa als auch in den USA. Wir erwarten eine Stabilisierung hinsichtlich der Zinsentwicklung und somit auch eine Stabilisierung der Märkte insgesamt. Damit wird es auch für Unternehmen wieder attraktiver sein, über den Kapitalmarkt und einen Börsengang nachzudenken.
Zusätzlich zu dem gänzlich anderen Zinsumfeld kommt auch noch, dass sich Unternehmen, einschließlich des Mittelstands, mit der digitalen Transformation, mit der Klimatransformation und mit einem internationalen Wettbewerb konfrontiert sehen, wodurch ein großer Investitionsbedarf zu erwarten ist. Und das kann nicht über öffentliche Mittel, aber auch nicht über das Bankensystem oder die private Kreditwirtschaft allein finanziert werden – da muss der Kapitalmarkt eine zentrale Rolle spielen. Wir sind optimistisch, dass wir einen wiederbelebten IPO-Markt sehen werden.
Was sollte aus Ihrer Sicht getan werden, um die Bedeutung des Kapitalmarkts aktiv zu fördern und das Bewusstsein dafür anzukurbeln?
Der Kapitalmarkt spielt bereits eine wichtige Rolle, was Kapitalerhöhungen und ähnliche Finanzierungsinstrumente betrifft. Die Unternehmen, die bereits an der Börse sind, nutzen den Kapitalmarkt aktiv als Finanzierungsquelle. Aber wir haben in Deutschland viele Unternehmen, die privat gehalten werden. Und da muss jetzt etwas passieren und der Schritt zum Kapitalmarkt gefördert werden, damit auch mittelständische Unternehmen den Kapitalmarkt als Chance sehen, um Wachstumskapital aufzunehmen und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Das Zukunftsfinanzierungsgesetz ist ein erster Schritt in diese Richtung: dadurch soll es für Unternehmen erleichtert werden, an die Börse zu gehen und die Börse für zukünftige Finanzierungen zu nutzen.
Vielleicht können Sie da noch mal ein paar konkrete Beispiele geben, in welcher Situation für welche Art von Unternehmen, eben gerade aus dem mittelständischen Segment, ein Engagement an der Börse tatsächlich die beste Lösung wäre im Unterschied zu anderen Maßnahmen, die das Unternehmen zur Finanzierung ergreifen kann.
Ohne konkret auf Einzelunternehmen einzugehen, bin ich der Auffassung, dass sich jedes mittelständische Unternehmen die Frage stellen muss, wie es sich langfristig strategisch positioniert. Was wir aktuell sehen, ist, dass insbesondere in Zeiten eines sich stark verändernden Zinsumfeldes die Finanzierungsoptionen sich neu sortieren. Was aber weder aus unternehmensspezifischer noch aus gesamtwirtschaftlicher Sicht passieren darf, ist, dass ein Unternehmen Investitionen zurückstellt, weil die Finanzierungsoptionen nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Wir sehen ja, dass in Asien und in den USA der Kapitalmarkt sehr stark gefördert wird und dort viele Unternehmen den Weg an den Kapitalmarkt gehen. Später spielt der Kapitalmarkt dann eine zentrale Rolle bei der Finanzierung. Wenn die Unternehmen global wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann muss Eigenkapital eine Säule der Finanzierung sein. Und wenn Unternehmen dafür an den Kapitalmarkt gehen und diesen aktiv nutzen, dann sind die Finanzierungsoptionen einfach viel breiter.
Wesentliche Argumente, die gegen einen Börsengang oder eine Börsennotierung sprechen könnten, sind bekanntlich die erforderliche Transparenz der Finanzkennzahlen, die Mitbestimmungsrechte der Stakeholder und der mit einer Börsennotierung verbundene Aufwand. Wie könnte man diese Argumente entkräften?
Transparenz und Disclosure sind natürlich aus Wettbewerbsgesichtspunkten Dinge, mit denen man umgehen muss. Allerdings bieten sich dabei auch Chancen, weil man seinen Geschäftspartnern und Stakeholdern auch eine andere Kredibilität entgegenbringt und sich als Unternehmen verpflichtet, das gegenüber dem Kapitalmarkt Kommunizierte auch einzuhalten. Das diszipliniert und stärkt die Verantwortung, die durchaus auch die Wettbewerbsposition verbessern kann.
Was das zweite Argument der Mitbestimmung angeht, so bekommt ein Unternehmen, das institutionelle Investoren in das Aktionariat aufnimmt, natürlich auch Rückmeldung aus dem Kapitalmarkt, ob die strategischen Schritte nachvollziehbar sind und ob es sich in die richtige Richtung entwickelt. Das heißt, das Management kann dieses Feedback auch positiv aufnehmen und in seine Unternehmensentwicklung einfließen lassen.
Und zum dritten Punkt, dem Aufwand: Natürlich müssen im ersten Schritt oftmals Strukturen verändert und nachgezogen werden – aber auch das professionalisiert. Und wenn wir nach Europa schauen: Mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) werden die meisten Unternehmen, die von der Größe her kapitalmarktfähig sind, auch verpflichtet, gewisse Dinge hinsichtlich Nachhaltigkeit zu berichten, und sie werden ihre Organisationsstrukturen auch dahin gehend professionalisieren müssen. Aus unserer Sicht verringert sich damit eigentlich der Unterschied zwischen privaten und börsennotierten Unternehmen. Das Nachhaltigkeitsreporting erfordert teilweise ähnliche Abläufe und Organisationsstrukturen, die man als börsennotiertes Unternehmen braucht. Aus meiner Sicht ist das auch für den Mittelstand eine Chance, zu sagen, wir werden ohnehin regulatorisch verpflichtet, unsere Strukturen weiterzuentwickeln und hinsichtlich des Reportings neu aufzustellen – dann können wir auch noch den Extraschritt an den Kapitalmarkt gehen, um die Vorteile, die dieser bietet, dann auch direkt mitzunutzen.
Da muss man aber sicher auch kommunikativ noch mehr tun. Gehen Sie hier als Deutsche Börse mit gutem Beispiel voran?
Die Deutsche Börse ist bei dem Thema ESG sehr stark aufgestellt. Die Deutsche Börse macht aber keine regulatorischen Vorgaben an Unternehmen. Die werden auf EU-Ebene gestaltet. Da brauchen wir eine übergeordnete Regulierung, und wir wollen als Deutsche Börse da auch nicht zusätzliche Komplexität für Unternehmen reinbringen. Aber was wir definitiv unterstützen, ist, wenn Unternehmen das als Chance sehen, an den Kapitalmarkt zu kommen und sich weitere Finanzierungsquellen dadurch erschließen.
Worin sehen Sie die Hauptvorteile, die ein Engagement am Kapitalmarkt für ein mittelständisches Unternehmen bringen kann?
Hauptvorteil ist die Kapitalbeschaffung, sowohl auf der Eigenkapitalseite, aber auch auf der Fremdkapitalseite. Eine gestärkte Eigenkapitalbasis ist auch vorteilhaft für eine Fremdkapitalaufnahme. Es bringt eine erhöhte Visibilität, sowohl was das eigentliche Geschäft betrifft, als auch am Kapitalmarkt. Wenn Kapitalbedarf vorhanden ist, kann hier natürlich auch schneller agiert werden. Thema Mitarbeitergewinnung und Beteiligung am Unternehmenserfolg: Das ist bei einem börsennotierten Unternehmen oder einer börsennotierten Gesellschaft einfacher als bei einer GmbH. Dann bringt es auch eine Professionalisierung der Unternehmensstrukturen mit sich, weil man durch die Börsennotierung einen externen Blick auf das Unternehmen hat. Ein weiterer Vorteil ist die Transparenz gegenüber Geschäftspartnern und Stakeholdern. Es kann hilfreich sein, wenn der Geschäftspartner weiß, wie stark das Unternehmen finanziell aufgestellt ist und da eine zusätzliche Verlässlichkeit reinbringt. Und wenn man es global betrachtet: die Deutsche Börse verfügt über Benchmark-Indizes, die weltweit Beachtung finden. Zusätzlich kann es Unternehmen bei der Internationalisierung helfen, gerade wenn in Länder expandiert wird, die kapitalmarktorientierter sind. Unternehmen, die selbst an der Börse notiert sind, haben eine größere Visibilität.
Hinzu kommt noch, dass Unternehmen, auch mittelständische Unternehmen, mehr und mehr in neue Technologien investieren werden. Wir sprechen hier von Digitalisierung und vom Einsatz von KI. Sich über den Kapitalmarkt Investoren mit in das Unternehmen reinzuholen, die dieses Thema verstehen, könnte ein Vorteil sein. Der Kapitalmarkt betrachtet Unternehmen in der Regel chancenorientiert. Das heißt, der Kapitalmarkt denkt in Chancen und in Zukunftsentwicklung. Das Thema neue Technologien, Innovationen und Investitionen, das sind alles zentrale Punkte, die der Kapitalmarkt auch bereit ist zu honorieren.
Nun ist die allgemeine wirtschaftliche Lage zurzeit nicht besonders günstig. Wir befinden uns in einer eher rückläufigen Konjunktur. Und auch die Anzahl der Börsengänge ist zuletzt stark zurückgegangen. Wie wirkt sich dieses schwierige Umfeld aus und wie geht es weiter?
Der wesentliche Faktor, der es für Börsengänge in den letzten 24 Monaten schwieriger gemacht hat, ist, dass sich das gesamte Investitionsklima und Umfeld durch die historisch schnellen Zinserhöhungen stark verändert hat. 2021 haben wir noch über ein Nullzinsumfeld gesprochen, wo Investoren de facto auf der Fremdkapitalseite keine Rendite erzielt haben. Es gab wenig andere Anlageklassen am Kapitalmarkt außer Aktien, mit denen man Rendite erzielen konnte. Jetzt sind wir in einem Umfeld, wo Investoren mit Fremdkapital, Anlagen im Geldmarkt und mit Dividenden und Aktien positive Renditen erzielen können. Das heißt, die Investoren haben eine sehr viel größere Auswahl an Investitionsmöglichkeiten. Diese Reallokation von Vermögen geht in der aktuellen Phase eher tendenziell weg vom Aktienmarkt. Das sehen wir auch an den Handelsvolumina über die letzten Monate. Und bis sich da wieder eine Balance gefunden hat, ist es natürlich sehr viel schwieriger für ein Unternehmen, an den Kapitalmarkt zu kommen.
Und das andere ist: Dadurch, dass wir im Jahr 2020/21 in der Spitze so einen Fokus und so eine Konzentration auf die Aktienmärkte hatten, war natürlich auch das Bewertungsniveau in diesen Jahren ein anderes als das heutige. Um da die Erwartungen der Unternehmen und Investoren wieder zusammenzubekommen, braucht es einfach eine gewisse Zeit.
Der IPO-Markt in Europa war insgesamt sehr ruhig in den letzten zwei Jahren, aber wir haben ja gesehen, dass es letztes Jahr Porsche und in diesem Jahr unter anderem Schott Pharma erfolgreich an die Börse geschafft haben. Wenn ich mir anschaue, wie sich die Unternehmen auf den Kapitalmarkt vorbereiten, ist im ersten Halbjahr nächsten Jahres mit einer erhöhten Anzahl von Börsengängen aus verschiedensten Sektoren zu rechnen. Nach einer Phase geringerer Aktivität haben wir in der Vergangenheit zunächst einmal größere Unternehmen gesehen, die wieder an den Markt kommen, weil Investoren auf große, liquide Unternehmen fokussiert sind.
Typischerweise sehen wir dann eine positive Entwicklung der Aktienkurse bei Neuemissionen und eine breitere Öffnung des Kapitalmarkts, weil Investoren dann auch wieder bereit sind, in kleinere Unternehmen zu investieren.
Insgesamt hatten die KMU-Wachstumsmärkte in Europa aber durchaus Zulauf in den letzten fünf Jahren. Die Statistik im letzten Jahresbericht des Europäischen Börsenverbandes zeigt, dass sich die Anzahl der börsennotierten Unternehmen signifikant erhöht hat, nämlich um 50 Prozent. Zwar haben wir in Deutschland da noch viel Potenzial. Aber es zeigt sich, dass tatsächlich auch die kleineren Unternehmen an den Kapitalmarkt herantreten können, wenn das vorhandene Kapital mobilisiert wird.
Wie schauen Sie auf den gerade erfolgten IPO von Birkenstock in den USA, die ja den Börsengang durchaus auch in Deutschland hätten umsetzen können. Empfinden Sie diese Entwicklung als bedrohlich?
Grundsätzlich ist das eine sehr spezifische Situation, weil man bedenken muss, dass Birkenstock vorher schon zu einem Großteil einem US-amerikanischen Finanzinvestor gehört hat und die Entscheidung für die Börse sicherlich auch dadurch geprägt war. Wir gratulieren Birkenstock zu dem Börsengang und sehen es positiv, wenn ein Unternehmen wie Birkenstock an den Kapitalmarkt geht. Allerdings bin ich überzeugt, dass Birkenstock auch in Deutschland einen sehr erfolgreichen Börsengang hätte unternehmen können.
Ich möchte an dieser Stelle nochmal das Beispiel Porsche anführen. Das Unternehmen ist zu einem Zeitpunkt an die Börse gekommen, als die Unsicherheit der Märkte noch größer war, nämlich letztes Jahr im Herbst. Porsche hätte auch an jeder anderen Börse auf der Welt gelistet werden können. Aber es hat hervorragend in Deutschland funktioniert.
Für mich persönlich ist die Entscheidung für den US-Börsengang gerade bei einem Unternehmen wie Birkenstock schwer nachvollziehbar, da das Unternehmen ja auch sehr stolz auf seine Wurzeln ist und darauf, dass sie in Deutschland über die letzten zehn Jahre 3.000 Arbeitsplätze geschaffen haben, wovon die meisten in Deutschland sind. Birkenstock hat es auch vorher schon geschafft, einen überwiegenden Teil seiner Umsätze in den USA zu generieren. Für mich hat ein Börsengang auch sehr viel mit der Identifikation für die Mitarbeiter zu tun. Und wenn der Großteil der Mitarbeiter in Deutschland ist, schafft man meines Erachtens mit einem Börsengang in der Heimat eine höhere Identifikation.
Da würde ich als positives Gegenbeispiel noch mal Schott Pharma erwähnen, ein Unternehmen aus Mainz, das seine Mitarbeiter beim Börsengang sehr stark mitgenommen und involviert hat. Noch ein anderes Beispiel: Die Commerzbank ist dieses Jahr wieder in den DAX aufgestiegen und hat diesen Erfolg auf dem Parkett der Frankfurter Börse gefeiert und ihre Mitarbeiter dabei sehr stark einbezogen, was eine sehr hohe Identifikation schafft.
Was den Zugang zu Investoren und das Verständnis für das Unternehmen am Kapitalmarkt sowie die Aufmerksamkeit betrifft, wäre ein Unternehmen wie Birkenstock denke ich auch in Frankfurt sehr gut aufgehoben gewesen.
Sehen Sie darin einen Trend oder ist das für Sie ein Einzelfall?
Also ich würde das nicht als Trend bezeichnen. Ich würde es als Warnsignal an die Wirtschaft oder auch an die Politik sehen, dass wir für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen müssen, damit Unternehmen wie Birkenstock mit Überzeugung die Entscheidung treffen, in Deutschland oder in Europa an den Kapitalmarkt zu gehen. Und wenn wir da gemeinschaftlich ansetzen − und mit gemeinschaftlich meine ich sowohl von der politisch-regulatorischen Seite, als auch von der wirtschaftlichen und unternehmerischen Seite − dann werden wir es schaffen, einen starken Kapitalmarkt zu haben, der auch der deutschen und europäischen Wirtschaft gerecht wird und Unternehmen die Möglichkeit bietet, global wettbewerbsfähig zu bleiben.
Gesetzlich ist schon viel auf den Weg gebracht worden auf EU-Ebene und auch auf nationaler Ebene, Stichworte sind der EU Listing Act oder das Zukunftsfinanzierungsgesetz. Sind Ihrem Empfinden nach die Weichen hier schon gut gestellt oder fehlt für Sie noch etwas?
Teilweise würde ich sagen, weil die gesetzlichen Änderungen, die angedacht sind, vor allen Dingen auf die Rahmenbedingungen für Unternehmen abzielen. Das Zukunftsfinanzierungsgesetz kann nur als ein erster Schritt gesehen werden, denn es könnte in vielerlei Hinsicht noch pragmatischer ausgestaltet werden, um wirklich etwas zu verändern, auch am Kapitalmarkt. Aber ein ganz wesentlicher Aspekt, an dem wir auch ansetzen müssen, ist, das vorhandene Kapital in Richtung Kapital- und Aktienmarkt zu mobilisieren. Laut Statistik der Bundesbank beläuft sich das Vermögen der privaten Haushalte im ersten Quartal 2023 in Deutschland auf knapp 7,4 Billionen Euro. Davon sind rund 42 Prozent Einlagen und Bargeld, also im Endeffekt unproduktiv. Und wenn man dieses Kapital zu Produktivkapital machen würde, in dem man es teilweise bewusst in Richtung Kapitalmarkt steuert, dann hätten wir auf der Nachfrageseite auch das Puzzleteil, das es Unternehmen ermöglicht, das Kapital für Finanzierungen zu nutzen – und wir stärken die Nachfrageseite für Börsengänge.
Das hängt auch mit der Mentalität zusammen. Müssen die Leute risikobereiter werden?
Ich würde das nicht per se unter Risikobereitschaft verbuchen, sondern wir müssen das Kapital, das vorhanden ist, auch für die private Vermögensbildung einsetzen. Natürlich ist es betriebswirtschaftlich sinnvoll, einen Teil des Vermögens auch in risikoarmen oder risikofreien Assetklassen zu parken. Nur die Relation muss stimmen. In Deutschland ist ein überwiegender Teil des Kapitals in unproduktive, risikoarme Assetklassen geparkt. Dieses Geld fehlt natürlich der Wirtschaft. Da müssen wir sowohl auf der Privatanlegerseite als auch bei den großen Kapitalsammelstellen ansetzen, damit das Kapital auch mehr in die Unternehmen fließt und für Innovations- und Wachstumsfinanzierung genutzt wird, weil das im Endeffekt den Kreislauf ankurbelt und dafür sorgt, dass wir auch wirtschaftlich stärker wachsen können.
Herr Maassen, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch!
Dieser Beitrag ist in der Magazinausgabe 4/2023 der Unternehmeredition mit Schwerpunkt “Unternehmervermögen” erschienen. Zum E-Paper geht es hier.
ZUR PERSON
Stefan Maassen ist Head of Capital Markets & Corporates bei der Deutschen Börse und verantwortet den Primärmarkt. Das beinhaltet die Betreuung privater und börsennotierter Unternehmen sowie das Community Management am Börsenplatz in Frankfurt.
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Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.