Unternehmeredition: Die Automobilindustrie – eine Schlüsselbranche für den Industriestandort Deutschland – steckt in der Krise. Was sind die Hauptursachen für diese drastische Entwicklung, und wie schätzen Sie die Lage ein?
Bernd Richter: Es gibt derzeit eine ganze Reihe exogener Krisenfaktoren, die sich negativ auf das Konsumklima auswirken; Vorzeichen für eine nachhaltige Verbesserung gibt es derzeit kaum. Die Automobilindustrie steckt zudem in einer komplexen Transformation, die mit einer Reihe von strategischen Herausforderungen kämpfen muss, auf die sie nur teilweise Einfluss hat.
Schauen wir zunächst auf die Rahmenbedingungen: Ohne eine flächendeckende Ladeinfrastruktur werden die Verbraucher die Anschaffung von Fahrzeugen mit elektrischem Antrieb nicht im erforderlichen Umfang tätigen. Zudem muss der Ladestrom (aus erneuerbarer Energie) perspektivisch unter 40 Euro-Cent liegen, um wirtschaftlich vergleichbare Verbrauchskosten pro gefahrenen Kilometer zu haben; Fahrzeuge mit konventionellem Antrieb liegen in etwa auf diesem Niveau pro gefahrenen Kilometer. Daneben ist die Anschaffung eines Elektrofahrzeuges immer noch deutlich zu teuer, um eine Nachfrage in der Breite zu erzeugen. Der Wegfall der Förderung von Elektroautos hat ein Übriges getan, um die Kaufschwelle weiter anzuheben; von der vorgenannten Verunsicherung der Verbraucher einmal ganz abgesehen.
Welche konkreten Maßnahmen sollten prioritär umgesetzt werden, um der Absatzkrise entgegenzuwirken?
Der Verbraucher braucht klare Signale. Ohne eine flächendeckende Ladeinfrastruktur wird die Nachfrage in den Speckgürteln der Großstädte hängen bleiben. Der Zugang zu bezahlbaren Ladestrom muss auch im innerstädtischen Bereich in Mehrfamilienimmobilien ermöglicht werden. In diesem Kontext sollte das Signal durch eine Wiederbelebung der Kaufprämien für Elektrofahrzeuge verstärkt werden. Daneben zeigt das Erfolgsmodell Norwegen, dass selbst in einem dünn besiedelten Land eine nachhaltige Förderung zum Erfolg führt. Neben der Kaufprämie oder dem Entfall bzw. der deutlichen Reduzierung der Mehrwertbesteuerung sind aber auch die Hersteller gefordert. Die derzeitige Modellpallette ist in der Tendenz für die breite Bevölkerung nicht erschwinglich; es braucht Modelle, deren Einstiegspreise mit den aus China importierten Fahrzeugen konkurrieren können.
Ist eine staatliche Förderung wirklich eine gute Idee?
Erst kürzlich habe ich in einem Diskussionsbeitrag hinterfragt, ob eine Stimulation der Nachfrage durch staatliche Intervention sinnvoll ist. Denn angesichts der aktuellen Krise wird die Zahl der Insolvenzverfahren in der Automobilbranche weiter steigen. Letztlich sind solche Verfahren aber für Ausnahmesituationen geschaffen worden. Die deutsche Automobilindustrie steckt in einer veritablen Strukturkrise. Insoweit ist es aus meiner Sicht im gesamtwirtschaftlichen Interesse vertretbar, durch einen Kanon von Fördermaßnahmen diese Strukturkrise zu bewältigen.
Die Elektromobilität wird als Schlüssel zur Zukunft der Automobilindustrie gesehen. Wie bewerten Sie die aktuelle Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hersteller im Vergleich zu internationalen Konkurrenten?
Die Unternehmen müssen Autos herstellen, die die Verbraucher in der Breite begeistern. Aktuell gibt es noch kein deutsches Elektroauto für den Massenmarkt. In Anlehnung an einen vor einigen Jahren veröffentlichen Artikel benötigen wir einen „Käfereffekt“. Der Schlüssel ist aus meiner Sicht ein erschwingliches Elektrofahrzeug, das auch für ausländische Märkte attraktiv ist. Smart Driving und ein leistungsfähiges Batteriesystem sind entscheidende Faktoren, um international wettbewerbsfähig zu sein.
Das Bundesministerium für Forschung und Entwicklung (BMBF) hat mit dem Dachkonzept für die Batterieforschung einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht. Es gilt aber wesentlich mehr Geschwindigkeit im Bereich der Grundlagenforschung aufzunehmen. Wir müssen uns idealerweise wieder einen technologischen Vorsprung erarbeiten, der dem bisherigen Wettbewerbsvorteil konventioneller deutscher Antriebstechnik entspricht. Der vom BMBF gesetzte Rahmen suggeriert eine Zeitachse, die nicht mehr zur Verfügung steht. Hier gilt es, Kooperation und Konzentration der wesentlichen Stakeholder beschleunigt und mit weitaus größeren Ressourcen sicherzustellen und vor allem industrielle Konzepte ohne langjährige Bürokratiehürden auszurollen.
Deutschland muss vermeiden, dass sich die damalige Entwicklung in der Herstellung von Solarzellen wiederholt. Das seinerzeitig im Aufbau befindliche deutsche Solar Cluster wurde Ende der Nullerjahre vollständig vom internationalen Wettbewerb überrollt. Die deutsche Automobilindustrie steht derzeit vor einer vergleichbaren Herausforderung. Sie steht in einem globalen Verdrängungswettbewerb, bei dem man sich nicht auf ein „Fair-Play“ verlassen sollte. An der Größe und Bedeutung der deutschen Automobilindustrie sollten sich auch die Gegenmaßnahmen orientieren; da ist eine Menge Luft nach oben, wenn man die möglichen volkswirtschaftlichen Schäden überschlagen würde. Im Bereich des Smart Driving liegen antriebsunabhängig vergleichbare Herausforderungen vor. Allerdings haben die deutschen Hersteller hier in der Vergangenheit durch eine Vielzahl von Produkten international Maßstäbe gesetzt.
Und wie sieht die Lage für die Zulieferer aus?
Der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) beziffert den Wertschöpfungsanteil der Zulieferindustrie auf rund 70%. Aus diesem Verhältnis resultiert, dass der größere Teil der Wertschöpfungskette überproportional von der Absatzkrise betroffen ist. Die Zulieferindustrie steht auch ohne Krisen unter permanenten Kostendruck. Die Zulieferer sind es gewohnt, ihre Effizienz permanent zu steigern. Im Ergebnis stehen häufig nur überschaubare operative Restrukturierungshebel zur Verfügung, da ohne eine kontinuierliche Optimierung des operativen Betriebes in der Regel keine Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden kann. Die mit den Automobilherstellern vereinbarten Verträge enthalten für Absatzschwankungen in der derzeitigen Größenordnung keine Mechanismen, die zu einer Kompensation von Leerkosten führen würden. Aus diesem Grund häufen sich derzeit die Krisenfälle bei den Zulieferunternehmen auf breiter Front.
Welche spezifischen Hürden sehen Sie in der Anwendung von Sanierungsverfahren wie dem StaRUG oder ESUG, und wie könnten diese besser genutzt werden?
Beim StaRUG geht es vor allem um eine Sanierung der Passivseite der Bilanz, also ausschließlich um eine finanzielle Restrukturierung. Diese geht häufig einher mit einer Herabsetzung des Kapitals und einer gleichzeitigen Kapitalerhöhung durch einen neuen Gesellschafter. Letztere zu finden ist aber zurzeit sehr schwierig. Der M&A-Markt für Zulieferunternehmen ist mehr oder weniger vollständig zum Erliegen gekommen. Abgesehen davon können eine ganze Reihe von Krisenursachen durch das StaRUG nicht adressiert werden. Demgegenüber können in einem Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung die Krisenursachen umfassend von den Geschäftsleitungsorganen unter Aufsicht eines vom Gericht bestellten Sachwalters angegangen werden. Dazu ist aber auch das Vertrauen der wichtigsten Stakeholder und hier insbesondere der Kunden und Finanzierer erforderlich. Diese müssen die Sanierung unterstützen.
Glauben Sie, dass die deutsche Automobilindustrie langfristig ihre internationale Spitzenposition behaupten kann, und welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein?
Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Automobile mit konventioneller Antriebstechnik ist unbestritten. Und das ist auch bei E-Autos möglich, wenn wir jetzt die Rahmenbedingungen konsequent verbessern. Die Industrie benötigt eine nachhaltige und verlässliche Förderpolitik. Das Hin und Her bei der Mobilitätswende verunsichert Unternehmen und Verbraucher. Trotz der Krisenstimmung darf man nicht vergessen, dass unsere Autobranche Innovationen auf den Markt bringt. Das zeigt auch ein Blick auf die Zahl der Patente im Bereich der Elektromobilität. Kurzum: die Autoindustrie kann die strukturellen Herausforderungen bewältigen, aber die Zeit drängt.
Herr Richter, vielen Dank für das Gespräch.
Bernd Richter ist Managing Partner der PLUTA Rechtsanwalts GmbH. Er ist Diplom-Kaufmann, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Sein Schwerpunkt liegt in der Beratung von Unternehmen in Sondersituationen. Der Sanierungsexperte verfügt über große Erfahrung in der Automobilbranche. Vor seiner Tätigkeit bei PLUTA war er mehr als 30 Jahre im Bereich Strategy and Transactions bei EY tätig.