Früherkennung statt Schadensbegrenzung – in einer Zeit permanenter Unsicherheit entscheidet die Fähigkeit, Risiken rechtzeitig zu erkennen und gezielt gegenzusteuern, über den langfristigen Erfolg von Unternehmen. Harald Kam, Mitglied der Geschäftsleitung bei Helbling Business Advisors, erläutert, wie ganzheitliche Systeme, Datenanalysen und KI helfen, Krisen früh zu erkennen und Chancen gezielt zu nutzen.
Unternehmeredition: Sie verantworten bei Helbling mit Ihren Kollegen Erik Gürtner und Thilo Herbertz gemeinsam den Bereich Transformation & Turnaround Management. Was reizt Sie persönlich an diesem Feld?
Harald Kam: Transformations- und Turnaround-Beratung erfordert regelmäßig einen ganzheitlichen Blick auf die Geschäftsmodelle der Mandanten und ein Verständnis für die besonderen Spielregeln und Handlungsoptionen in Veränderungs- und Krisensituationen. So gut wie jedes Projekt bietet andere Herausforderungen im Geschäftsmodell, in der Stakeholder-Landschaft oder im Unternehmensumfeld, sodass unsere Lösungen neben Erfahrung auch Kreativität erfordern, um passgenau für die jeweilige Problemstellung zu sein.
Regelmäßig werden wir als Berater erst gerufen, wenn der Veränderungsdruck durch unsere Kunden allein nicht mehr handelbar ist. Die Kommunikation mit den verschiedenen Stakeholder-Gruppen, um Vertrauen zu schaffen oder dieses wieder herzustellen sowie die Orchestrierung des Veränderungsprozesses sind weitere Facetten, die diesen Beratungsbereich für mich sehr reizvoll machen.
Wie definieren Sie „Krisenfrüherkennung“ im Unternehmenskontext?
Krisenfrüherkennung bezeichnet für mich die strukturierte und fortlaufende Beobachtung relevanter Unternehmensbereiche und Umweltfaktoren mit dem Ziel, potenzielle Krisen frühzeitig zu erkennen. Hierbei ist es notwendig, die potenziellen Risiken regelmäßig aggregiert zu bewerten und in die Planungsrechnungen einzubeziehen, um die finanzielle Nachhaltigkeit, die Robustheit und das Insolvenzrisiko des Unternehmens bewerten zu können.
Warum ist Krisenfrüherkennung gerade heute so wichtig?
Das wirtschaftliche Umfeld hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Unsicherheit ist der neue Dauerzustand. Ereignisse mit hoher Unsicherheit treten statistisch immer häufiger und intensiver auf als noch vor 20 bis 30 Jahren (siehe Weltunsicherheitsindex). Komplexes Umfeld, Polykrisen, kürzere Technologiezyklen, neue Wettbewerber, Fachkräftemangel etc. wirken täglich auf die Unternehmen ein- ohne regelmäßige und strukturierte Beobachtung des Unternehmens und der Umfeldbedingungen ist proaktive Unternehmenssteuerung nicht mehr möglich.
Ich finde den Vergleich der Entwicklung des Autofahrens sehr geeignet. Wenn man vor 20 bis 30 Jahren eine Urlaubsreise angetreten hat, hat man sich vorher die Strecke auf einer Karte angesehen, hat den Tank gefüllt, berücksichtigt, wie schnell man fahren will, überlegt, ob es voraussichtlich aufgrund von Ferien voll sein könnte und ausgerechnet, wann in etwa man das Reiseziel erreichen wird und ist losgefahren. Gab es auf der Strecke einen Stau, hat man das bestenfalls im Radio gehört oder erst gemerkt, wenn man drinstand. Erst dann hat man darüber nachgedacht, wie man seine Strecke anpasst, ohne zu wissen, ob die Änderung tatsächlich die bessere Alternative sein wird. So würde heutzutage niemand mehr agieren.
Heutzutage nutzt fast jeder Verkehrsteilnehmer Navigationssysteme, die nicht nur das eigene Fahrverhalten, sondern auch die sich andauernd verändernden Umfeldbedingungen einbeziehen. Diese Systeme prognostizieren in real-time die voraussichtliche Ankunftszeit und machen Alternativvorschläge, falls der bisherige Plan nicht mehr zu der schnellsten Ankunft führt.
Wer plant heute seine Fahrten noch mit einer Landkarte? Um heutzutage ein Unternehmen adäquat führen zu können, benötigt man ein zeitgemäßes Navigationssystem in Form eines auf das Unternehmen zugeschnittenen Krisenfrüherkennungs- und Managementsystems.
Wie sollte man reagieren, wenn sich eine Krise anbahnt?
Um Krisen proaktiv entgegenwirken zu können, ist es essentiell, einen ganzheitlichen Blick auf die Ausgangslage, das spezifische Geschäftsmodell, dessen Erfolgsfaktoren sowie das Wettbewerbsumfeld und die auf das Geschäftsmodell wirkenden allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu haben.
Nur so ist eine Standortbestimmung möglich und kann für ein wirksames Krisenfrüherkennungssystem festgelegt werden, in welchen der vorgenannten Bereiche welche Indikatoren beobachtet werden müssen, um frühzeitig Signale für eine sich anbahnende (oder sich verschärfende) Krise zu erkennen. Um die Auswirkungen auf das Unternehmen bewerten zu können, sind zudem belastbare Planungs- und Controlling-Instrumente von Nöten, an denen es leider häufig fehlt.
Viele Unternehmer sehen die Krise oft erst, wenn sie schon spürbar ist. Warum fällt es Führungskräften so schwer, frühzeitig gegenzusteuern?
Nach meiner Erfahrung kommen zwei Faktoren zueinander. Einerseits glauben Unternehmer mit den Methoden, die das Unternehmen erfolgreich gemacht haben, auch die aktuellen Herausforderungen meistern zu können beziehungsweise tun sich schwer, ihr Verhalten anzupassen.
Andererseits reichen die genutzten Steuerungssysteme nicht aus, um die aktuellen Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen vorzubereiten oder zu ergreifen.
Leider sind Managementfehler, fehlendes oder unzureichendes Controlling sowie finanzielle Fehlplanung weiterhin mit die häufigsten Ursachen für Unternehmensinsolvenzen.
Welche Rolle spielen digitale Tools, Datenanalysen oder auch KI bei der Krisenfrüherkennung?
Digitale Tools, Datenanalysen und Künstliche Intelligenz spielen eine zunehmend zentrale Rolle in der Krisenfrüherkennung. Moderne Systeme überwachen Finanzkennzahlen, operative Prozesse und externe Faktoren wie Marktpreise oder regulatorische Änderungen automatisiert und schlagen bei Abweichungen frühzeitig Alarm.
KI erweitert die Analyse, indem sie externe Daten – etwa Branchenentwicklungen, geopolitische Risiken oder Stimmungsbilder aus sozialen Medien – integriert und so ein umfassendes Risikobild erzeugt. Über Dashboards erhalten Führungskräfte in Echtzeit fundierte Entscheidungsgrundlagen, um präventiv zu handeln.
Besonders wertvoll ist die Fähigkeit der KI, Muster zu erkennen, die auf drohende Krisen hinweisen – etwa Umsatzrückgänge, Kundenabwanderung oder Lieferkettenprobleme. Mithilfe von Predictive Analytics lassen sich Szenarien simulieren und Risiken prognostizieren, sodass potenzielle Krisenherde identifiziert werden, bevor sie eskalieren. Viele dieser Ansätze sind heute mit überschaubarem Aufwand umsetzbar – vorausgesetzt, das System ist ganzheitlich konzipiert und wird regelmäßig aktualisiert.
Krisen bieten auch Chancen zur Erneuerung. Haben Sie ein Beispiel aus Ihrer Praxis, bei dem eine Krise letztlich zu einer nachhaltigen Stärkung des Unternehmens geführt hat?
Da gibt es eine Vielzahl von Fällen, von denen ich keinen einzelnen hervorheben möchte. Erfolgreich sind Veränderungsprozesse immer dann, wenn die Ursachen der Krise tatsächlich konsequent und umfassend angegangen werden. Hierbei gilt die Regel: „Je früher die bestehenden Herausforderungen angegangen werden, desto größer die Erfolgschancen“. Genau aus diesem Grunde sind funktionierende Krisenfrüherkennungs- und Krisenmanagement Systeme so wichtig.
Welche Fehler beobachten Sie am häufigsten, wenn Unternehmen versuchen, eine Krise aus eigener Kraft zu bewältigen?
Besonders oft fehlt es an einer klaren und transparenten Kommunikation – sowohl intern gegenüber Mitarbeitenden als auch extern gegenüber Kunden, Partnern oder Banken. Dadurch entstehen Unsicherheit und Vertrauensverlust. Zudem verfügen viele Unternehmen nicht über ausreichende Steuerungs- und Controllingsysteme, um Entscheidungen datenbasiert zu treffen und den Fortschritt der Maßnahmen verlässlich zu überwachen. Schließlich mangelt es häufig an Konsequenz und Geschwindigkeit in der Umsetzung: notwendige Schritte werden zu spät oder halbherzig eingeleitet, wodurch wertvolle Zeit verloren geht und sich die Krise weiter verschärft.
Wenn Sie an die nächsten Jahre denken: Welche Faktoren werden die Resilienz von Unternehmen in besonders volatilem Umfeld bestimmen?
Neben finanzieller Stabilität, einer klaren strategischen Ausrichtung und einer flexiblen Leistungserstellung sind insbesondere bestimmte Schlüsselkompetenzen entscheidend. Dazu zählen eine ausgeprägte Innovationsfähigkeit und digitale Kompetenz, um technologische Entwicklungen aktiv zu gestalten. Ebenso wichtig sind eine hohe Kundenorientierung sowie eine starke Team- und Zusammenarbeit, die schnelle Reaktionen und gemeinsames Lernen ermöglichen. Unternehmen, die über ein belastbares Netzwerk verfügen und Kooperationen gezielt nutzen, können zudem besser auf externe Veränderungen reagieren. Schließlich spielen wirksame Steuerungssysteme, ein professionelles Krisenmanagement und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen, eine zentrale Rolle, um dauerhaft widerstandsfähig zu bleiben.
Lieber Herr Kam, wir danken Ihnen für die interessanten Einblicke!
Das Interview führte Eva Rathgeber.
ZUM INTERVIEWPARTNER
Harald Kam ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Helbling Business Advisors. Der erfahrene Restrukturierungsexperte bringt mehr als 20 Jahre Industrie- und Beratungserfahrung mit – unter anderem in der Sanierung, strategischen Neuausrichtung und Transformation von Unternehmen in kritischen Situationen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Krisenfrüherkennung, Sanierungsoptionen, Turnaround-Konzepte sowie die Optimierung von Planungs- und Steuerungsinstrumenten. Branchenübergreifend verfügt er über fundiertes Know-how im Mittelstand ebenso wie bei internationalen Konzernen.