Finanzierungskultur im Mittelstand

Im Unterschied zur Natur ist Kultur im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt – auch geistige Gebilde wie die Wirtschaft. Krisen sind immer auch Anlässe, gesellschaftliche Werte, und damit unsere Kultur, auf den Prüfstand zu stellen. Hat die Wirtschaftskrise zu einem Wertewandel geführt? Natürlich. Und was hat sich dadurch für die Finanzierung des Mittelstandes geändert?

Wie alles begann

Staatskrise, Bankenkrise, Schuldenkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise – seit über fünf Jahren geht das so. Am 9. August 2007 spitzte sich die Lage an den Finanzmärkten dramatisch zu, die Zinsen im Interbankenhandel stiegen sprunghaft an: Die Finanzkrise begann. Ihr voraus ging weltweit ein längerer Zeitraum vergleichsweise niedriger Zinsen. Dadurch konnten sich auch einkommensschwächere Schichten ein Eigenheim leisten. Die steigende Nachfrage sorgte für steigende Immobilienpreise und erhöhte deren Wert als Kreditsicherheit. Die Banken nutzten diese Entwicklung, um den Schuldnern Zusatzkredite für den Konsum zu verkaufen. Eine Preisblase am Immobilienmarkt entstand. Um sich das notwendige Kapital für neue Kredite zu beschaffen, verbrieften die Banken Kreditforderungen in großem Stil. So verkauften sie die Zahlungsansprüche aus den Hypothekenkrediten an Investoren – andere Banken, Vermögensverwalter, Versicherungen. Diese waren ja auf der Suche nach Rendite.

Systematische Unterschätzung von Risiken

Das Umwandeln von Krediten in Wertpapiere, die dann auch noch von Ratingagenturen bezüglich ihrer Bonität beurteilt wurden, führte zu einer systematischen Unterschätzung der Risiken. Dann folgte ab 2005 eine wirtschaftliche Abschwächung in den USA. Eine Kettenreaktion wurde ausgelöst: Schuldner konnten die Kredite nicht mehr bezahlen und mussten ihr Haus verkaufen. Durch das entstandene Überangebot brachen die Hauspreise ein. Und durch die fallenden Hauspreise hatten die Banken und Investoren immer mehr ungesicherte Kreditforderungen. Es kam zu massiven Zahlungsausfällen, Banken und Investoren mussten Verluste verbuchen. Bei den Banken minderten die Verluste das Eigenkapital. Um die Vorschriften der Eigenmittelausstattung einzuhalten, mussten sie entweder neues Eigenkapital beschaffen oder andere Vermögenswerte verkaufen. Die Eigenkapitalbeschaffung war schwierig, also wurde Vermögen verkauft – die Preise fielen dadurch auf breiter Front. Banken und Versicherungen brachen zusammen, die Krise übertrug sich auf die Realwirtschaft. Die Regierungen waren gezwungen, einzugreifen: ausufernde Staatsverschuldung, Griechenland …

Vertrauen ist alles

Vertrauen bedeutet allgemein, die subjektive Überzeugung zu haben, dass mein Gegenüber integer ist, redlich handelt und auch die Möglichkeit und Kompetenz dazu besitzt. Vertrauen ist mehr als nur Glaube oder Hoffnung – es ist ein Phänomen, das in Situationen mit unsicherem Ausgang auftritt. Wer sich einer Sache sicher sein kann, muss nicht vertrauen. Gemachte Erfahrungen bilden die Grundlage – dabei spielt es keine Rolle, ob wir die Erfahrungen selbst gemacht haben oder jemand anders, dem wir Vertrauen entgegenbringen. Vertrauen wird vergrößert, je mehr Informationen verfügbar sind. Je transparenter das Handeln und die dahinter liegenden Motive sind, desto glaubwürdiger und verlässlicher ist die Wahrnehmung.

Revidierung des Homo Oeconomicus

In den Wirtschaftswissenschaften gibt es erst seit der Revidierung des Homo Oeconomicus (Prototyp des rein rational handelnden Nutzenmaximierers) Platz für ein Konstrukt wie Vertrauen. Zentrale Rolle spielen Transaktionen, da immer mindestens zwei Parteien beteiligt sind und der Leistung der einen die Gegenleistung der anderen gegenübersteht. Grundbedingung für Transaktionen ist ausreichendes Vertrauen, dass der andere seine Leistung erbringen wird. Beispielsweise vertraut der Verkäufer dem Käufer, dass dieser den Kaufpreis entrichtet, und andersherum, dass die Ware die zugesicherten Eigenschaften hat. Oder, um den Bogen zurück zu spannen, vertrauen die Banken darauf, dass ihre Kunden die Kredite bedienen. Vor Beginn der Finanzkrise vertrauten Immobilienkäufer darauf, dass die Immobilienpreise immer weiter steigen würden. Investoren vertrauten auf die Bonitätseinstufungen der Ratingagenturen. Banken vertrauten anderen Banken und Bürger dem Staat, dass dieser nicht pleitegehen wird. Offensichtlich ist, dass dieses Vertrauen auch enttäuscht werden kann. Schuldenbremse, Kreditausweitung, Bürgschaften, Schuldenerlass, Kauf von Anleihen, niedrige Zinsen, Reformen – letztendlich alles Maßnahmen politischer und wirtschaftlicher Institutionen, das verlorene Vertrauen in die Stabilität der Finanzmärkte zurückzugewinnen.

Finanzierungskultur heute

Aber viel wichtiger ist doch: Was machen die Betroffenen? Die privaten und institutionellen Investoren wollen Geld anlegen, die Unternehmen müssen weiter finanziert werden. Abseits der makroökonomischen Diskussion ist längst eine neue Finanzierungskultur entstanden. Der Mittelstand möchte eine breit aufgestellte und weniger krisenanfällige Finanzierungsarchitektur. Bedingt durch das verlorene Vertrauen möchte er Abhängigkeiten vermeiden – die Autonomie und damit der Wunsch nach Freiheit sind zurückgekehrt. Genau das Gleiche spielt sich bei den Investoren ab: Auch diese möchten autonomer handeln. Kapital wird nicht mehr nur indirekt über Banken oder Vermögensverwalter investiert, sondern auch direkt in bestimmte – vertrauenswürdige – Unternehmen.

Der Markt für Mittelstandsanleihen

Vor diesem Hintergrund hat sich ein neuer Markt für sogenannte Mittelstandsanleihen etabliert. Ausgehend von der Stuttgarter Börse mit „Bondm“ sind Handelssegmente für mittelständische Unternehmensanleihen entstanden. Die Emittenten verpflichten sich, ein Mindestmaß an fortlaufender Transparenz und Publizität einzuhalten – Vertrauen zu schaffen. Sie müssen u.a. einen von der BaFin gebilligten Wertpapierprospekt, inklusive testierter Finanzinformationen und ausführlicher Risikohinweise, haben und zudem ein externes Rating vorweisen. Auch sind Folgepflichten einzuhalten, wie die zeitnahe Veröffentlichung der Jahres- und Halbjahresabschlüsse, ggf. jährliche Folgeratings und die Veröffentlichung von Quasi-ad-hoc-Mitteilungen.

Mittel der Wahl: die Eigenemission von Anleihen

Und es funktioniert: Bis heute haben fast 100 mittelständische Unternehmen Anleihen mit insgesamt rund 5 Mrd. EUR von privaten und institutionellen Anlegern eingesammelt, bei Emissionsrenditen von etwa 7,25% im Mittel. Der Emittent öffnet sich gegenüber dem Kapitalmarkt und bekommt relativ zinsgünstige, bankenunabhängige Finanzierungsmittel. Warum? Bei den Investoren etabliert er sich als transparent und damit vertrauenswürdig. Die Finanzkommunikation muss in Bezug auf die Anleihe für eine verständliche „Credit Story“ sorgen: Wie werden Zinsen und Rückzahlung erwirtschaftet? Mittel der Wahl ist die Eigenemission: Der Emittent steuert hier selbst die Platzierung seiner Anleihen. Vorteil: Statt nur einer Bank als Ansprechpartner hat das Unternehmen einen multikanalen Absatzweg aus ggf. mehreren Intermediären, dem direktem Investorenzugang und nicht zuletzt über die Börse. Die Platzierungssicherheit kann sich durch diesen Weg erhöhen. Die Eigenemission von börsennotierten Anleihen ist so eine wichtige strategische Finanzierungsoption geworden. Sie vereint den autonomen Investor mit dem autonomen Unternehmer – durch ihre gegenseitige Suche nach Vertrauen.

Autorenprofil

Christopher Wanzel ist Partner der FMS AG. Die unabhängige Beratungsgesellschaft ist spezialisiert auf klassische und alternative Finanzierungslösungen für den Mittelstand. FMS ist Gründungscoach an der Börse Stuttgart und Emissionsexperte an der Börse München. www.fms-ag.de

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