Die schwarz-rote Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz und Vizekanzler Lars Klingbeil ist seit gut 100 Tagen im Amt. Der Anspruch war hoch: wirtschaftlicher Aufbruch, neue Investitionsanreize und eine generationengerechte Haushaltsführung. Doch aus Sicht von Wirtschaftsverbänden und Ökonomen ist von diesen Zielen bislang wenig umgesetzt worden. Die ersten Bewertungen fallen deutlich kritisch aus. Mittelständische Unternehmen, der Handel und die Wissenschaft äußern tiefe Zweifel an der Wirtschaftskompetenz der neuen Koalition.
Junge Unternehmer warnen vor Schuldenlast
Der Verband Die Jungen Unternehmer übt scharfe Kritik an der Renten- und Haushaltspolitik der Regierung. Nach Aussage des Bundesvorsitzenden Thomas Hoppe werde die anfängliche Hoffnung auf eine wirtschaftsfreundliche Wende durch wachsendes Misstrauen ersetzt. Die Koalition zeige eine gefährliche Tendenz zur Schuldenpolitik und überfordere damit künftige Generationen. „Mit dem Rentenpaket hat die Koalition gezeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht versteht“, erklärt Hoppe. Der Wegfall des Nachhaltigkeitsfaktors und neue Rentenzusagen auf Pump führten zu steigenden Lohnnebenkosten, die Unternehmen und Beschäftigte zusätzlich belasteten. Laut dem Verband droht die Regierung, sich mit wachsender Staatsverschuldung als „Schuldenkabinett“ in die Geschichtsbücher einzutragen.
Hoppe kritisiert zudem die Untätigkeit der Regierung bei Reformen, die nichts kosten würden, wie etwa bei flexibleren Arbeitszeiten oder einer Überarbeitung des Energieeffizienzgesetzes. Statt Entlastungen zu schaffen, würden bürokratische und finanzielle Belastungen für Unternehmen weiter steigen. Ein wirtschaftspolitischer Neustart sei dringend notwendig.
Familienunternehmer sehen Vertrauensverlust
Auch Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands Die Familienunternehmer, bewertet die bisherigen Maßnahmen der Koalition als kontraproduktiv. Ihrer Einschätzung nach habe die Bundesregierung in kurzer Zeit viel Vertrauen in ihre wirtschaftspolitische Kompetenz verspielt. „Unter den tief Enttäuschten sind auch Zigtausende mittelständische Unternehmer“, so Ostermann. Produzieren, Arbeiten und Investieren werde in Deutschland zunehmend unattraktiv. Die Bundesregierung ignoriere zentrale Sorgen des Mittelstands, etwa bei der Stromsteuer, und verschärfe die Situation sogar weiter.
Insbesondere das neue Tariftreuegesetz kritisiert sie deutlich. Es benachteilige nicht tarifgebundene, aber fair zahlende Betriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Ostermann sieht in der Abschaffung des Demografie-Faktors in der Rentenformel ein weiteres negatives Signal. Diese Maßnahme trage direkt zu steigenden Lohnnebenkosten bei und wirke Investitionen entgegen. Selbst beschlossene Sonderabschreibungen würden dadurch wieder neutralisiert. Die Regierung schade aus Sicht des Mittelstands ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Zielsetzung.
Handelsverband fordert echten wirtschaftspolitischen Aufbruch
Auch der Handelsverband Deutschland (HDE) sieht dringenden Handlungsbedarf. Präsident Alexander von Preen mahnt eine entschlossene Agenda an, die auf Entlastung, Investitionen und fairen Wettbewerb setzt. Die Koalition müsse endlich liefern. Die Situation im Einzelhandel sei angespannt, die Konsumstimmung verhalten und die strukturellen Probleme des Standorts Deutschland belasteten die Betriebe massiv. Besonders beim Bürokratieabbau sei bislang wenig passiert. Laut von Preen litten viele Händler unter der ausufernden Lieferkettenregulierung, die gerade kleine und mittlere Unternehmen stark belaste.
Zusätzlich fordert der HDE ein konsequenteres Vorgehen gegen unfaire Handelspraktiken asiatischer Plattformen wie Temu und Shein. Die Einhaltung europäischer Regeln müsse für alle Anbieter gelten. Hierzu schlägt der Verband unter anderem die Streichung der 150-Euro-Zollfreigrenze, eine bessere digitale Vernetzung der Zollbehörden und klare rechtliche Verantwortlichkeiten für Drittstaatenanbieter vor. Auch in der Energie- und Steuerpolitik sieht der HDE Nachholbedarf. Die Stromsteuer müsse – wie angekündigt – für alle Unternehmen gesenkt werden. Sozialversicherungsbeiträge sollten bei 40 % gedeckelt werden, um Arbeitsplätze langfristig zu sichern. Zur Belebung der Innenstädte schlägt der Verband eine steuerliche Sonderabschreibung für Investitionen in Innenstadtimmobilien vor.
ifo Institut sieht Reformbedarf
Die Einschätzung der Wissenschaft ist ähnlich kritisch. Nach einer Umfrage des ifo Instituts unter deutschen Ökonominnen und Ökonomen bewerten 42 % die bisherigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen negativ. Nur ein Viertel zieht eine eher positive Bilanz. Besonders kritisch sehen die Befragten die Rentenpolitik. Die Ausweitung der Mütterrente und das Ausbleiben einer Anhebung des Rentenalters widersprächen laut ifo-Forscher Niklas Potrafke den notwendigen Strukturreformen. Auch eine Reform der Schuldenbremse stoße auf Skepsis.
Zwar werde die geplante Stärkung öffentlicher Investitionen grundsätzlich begrüßt, ebenso wie der sogenannte „Investitionsbooster“ durch verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten. Doch diese Maßnahmen reichten nach Ansicht vieler Befragter nicht aus, um die mittelfristigen Wachstumsaussichten deutlich zu verbessern. Laut Potrafke brauche es dafür marktorientierte Strukturreformen, von denen bislang jedoch nichts zu erkennen sei.
Nach 100 Tagen Regierung Merz ist das Urteil von Mittelstand, Handel und Wissenschaft weitgehend einheitlich: Die wirtschaftspolitischen Versprechen der Koalition seien bislang nicht eingelöst worden. Statt Entlastungen für Unternehmen dominierten steigende Kosten, ausufernde Bürokratie und fehlende Strukturreformen. Der erhoffte Aufbruch bleibt nach Einschätzung vieler Akteure weiterhin aus.
Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen und Tech-Start-ups.