„Wir führen im Jahr über 3.000 Auftragsforschungsprojekte durch“

Fraunhofer ist die größte Organisation für anwendungsorientierte Forschung in Europa. Im Interview spricht Prof. Bullinger über den Innovationsstandort Deutschland, die Zusammenarbeit mit dem Mittelstand und die „Märkte von übermorgen“.

Unternehmeredition: Herr Prof. Bullinger, wie bewerten Sie den Innovationsstandort Deutschland? Was sind die größten Stärken und Schwächen?
Bullinger: Auf der aktuellen Rangliste des „Global Innovation Index“ steht Deutschland auf dem 12. Platz. Wir haben uns zwar in den vergangenen Jahren verbessert, können aber nicht zu der alten Spitzenposition zurückfinden. Insgesamt rückt die Spitze immer enger zusammen. Die deutsche Wirtschaft hat sich nach der Krise erstaunlich schnell erholt, so dass sie ihre Rolle als Ausrüster der Welt bestätigen konnte. Größte Stärke ist eine Wirtschaftsstruktur, in der Großunternehmen eng mit mittelständischen Unternehmen verknüpft sind. Die Hidden Champions, oft Weltmarktführer in Spezialgebieten, sind die Kraftzentren der deutschen Wirtschaft. Größte Schwäche ist die oft zögerliche Umsetzung von Ideen in marktreife Innovationen. Hier fehlt es auch an Venture Capital für technologieorientierte Neugründungen. Dennoch gilt: Deutschland hat in der Welt noch immer einen guten Ruf für technischen Vorsprung und Qualität seiner Produkte. Das künftige Qualitätsmerkmal werden Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz sein. Hier gilt es einen Vorsprung auszubauen und in wirtschaftlichen Erfolg umzusetzen. Nur eine weiter denkende, weiter forschende Gesellschaft ist in der Lage, ihre Probleme aus eigener Kraft zu lösen.

Unternehmeredition: Was spricht aus Unternehmersicht für eine Zusammenarbeit mit Forschungsinstituten wie Fraunhofer?
Bullinger: Die technologische Entwicklung verläuft heutzutage so schnell, dass selbst große Unternehmen nicht alles allein erforschen und entwickeln können. Also brauchen sie Partner, die bereits Kompetenzen in der gefragten Technologie erarbeitet haben. Weil Fraunhofer-Institute – anders als die Grundlagenforschung – immer die industrielle Anwendung im Auge haben, sind sie der ideale Technologiepartner für die Wirtschaft, insbesondere natürlich für kleine und mittlere Unternehmen, die sich keine eigenen großen Forschungsabteilungen leisten können. Unsere Institute arbeiten industrienah, achten auf Kosten, Termine und Vertraulichkeit, kennen die Rahmenbedingungen der Unternehmen und wissen, worauf es ankommt. Der andere Vorteil ist unsere Problemlösungskompetenz. Denn viele Unternehmen kommen zu uns, weil sie ein ganz spezielles Problem haben. Häufig kennen wir schon Lösungsmöglichkeiten. Dann geht es darum, mit dem Unternehmen eine maßgeschneiderte Lösung zu entwickeln und zu implementieren. Manchmal müssen auch völlig neue Wege eingeschlagen und Machbarkeitsstudien erarbeitet werden. So gibt es natürlich, je nach Kunde und Problemlage, unterschiedliche Formen der Kooperation, das reicht von einer langjährigen strategischen Technologiepartnerschaft über Verbundprojekte mit vielen Beteiligten und klassischer Auftragsforschung bis hin zu kleinen Mess- und Prüfaufträgen.

Unternehmeredition: Wie nutzt der Mittelstand dieses Angebot? Wo sehen Sie noch Nachholbedarf?
Bullinger: Über 3.000 Auftragsforschungsprojekte führen wir im Jahr mit der Wirtschaft durch, etwa die Hälfte mit der mittelständischen Wirtschaft. Die Aufträge verteilen sich auf unsere Verbünde Mikroelektronik, IuK-Technologien, Light and Surfaces, Produktion, Werkstoffe, Life Sciences und Verteidigungs- und Sicherheitsforschung recht breit, wobei der Verbund Life Sciences noch am kleinsten ist, sich aber dynamisch entwickelt. Der Mittelstand nutzt unser Angebot teilweise sehr intensiv. Mit immer mehr Unternehmen entwickeln sich strategische Technologiepartnerschaften. Andere öffnen sich nur sehr zögerlich für Innovationspartnerschaften. Die Angst vor Know-how-Verlust ist oft noch größer als der Innovationsdruck. Das Vertrauen muss sehr mühsam aufgebaut werden. Deshalb ist unser Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft. Wir versuchen Vorurteile auszuräumen durch Beispiele gelungener Kooperation. Weil Unternehmer am meisten anderen Unternehmern glauben, haben wir in einer Broschüre und mit Videos einmal neun unterschiedliche Unternehmensführer selbst beschreiben lassen, warum sie mit Fraunhofer zusammenarbeiten.

Unternehmeredition: Können Sie Beispiele aus der Praxis für erfolgreiche Kooperationen nennen?
Bullinger: In der genannten Broschüre „Vorsprung für Unternehmen – gemeinsam zum Erfolg“ ist beispielsweise die Firma Festo beschreiben, mit der Fraunhofer unter anderen einen flexiblen Handlingsassistenten entwickelt hat. Der innovative Greifer wurde im vergangenen Jahr mit dem Zukunftspreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Andere mittelständische Firmen sind Jenoptik, mit der wir neue optische Technologien entwickeln, das für Bohrhämmer und Akkuschrauber bekannte Unternehmen Hilti, die Firma Roth & Rau, die Plasmabeschichtungsanlagen für die Solarindustrie baut, oder die Bundesdruckerei, mit der wir eine neue Generation von sicheren Ausweisen und Identifikationssystemen entwickeln.

Unternehmeredition: Welche Leitinnovationen werden die nächsten Jahre bestimmen? In welchen Bereichen sehen Sie die „Märkte von übermorgen“?
Bullinger: Die nächsten Jahre sind bestimmt von den großen Herausforderungen: der Energiewende, der Rohstoffverknappung, der Klimaproblematik, der Mobilität, der Sicherheit, der bezahlbaren Gesundheit in einer alternden Gesellschaft. Deshalb zielen die Technologieentwicklungen auf die erneuerbaren Energiequellen Wind, Sonne und Biomaterialien, auf intelligente Netze und neue Speichertechnologien. Hinzu kommt den intensive Einsatz von Effizienztechnologien vom Wohnhaus bis zur Fabrik. Der schrittweise Umstieg zur Elektromobilität verlangt die Lösung vieler – und nicht nur technologischer – Fragen.

Unternehmeredition: Was ist Ihr wichtigster Rat an den Mittelstand in Bezug auf erfolgreiches Innovationsmanagement?
Bullinger: Mit dem erhöhten Innovationsdruck steigt auch das Risiko. Die unternehmerische Herausforderung besteht also darin, das Risiko zu minimieren, indem möglichst viel Wissen über Kunden, Märkte, Wettbewerber und Technologien gesammelt und analysiert wird. Zur Unterstützung haben wir Werkzeuge wie Technologieradar und Innovationsaudit entwickelt. Der wichtigste Hebel zur Erhöhung des Innovationstempos liegt in der Vernetzung mit Partnern und Kunden. In Zeiten schnellen Wandels ist Anpassungsfähigkeit wichtiger als Größe. Innovationen werden von Menschen gemacht, genauer von kreativen, motivierten Mitarbeitern. Deshalb ist eine innovationsfreundliche Unternehmenskultur die wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Unternehmen. Dazu gehört ein Führungsstil, der den Mitarbeitern Freiräume lässt, sie ermutigt, neue Ideen weiter zu entwickeln, Vertrauen zeigt und vor allem fähig ist, mit Risiken und Fehlern umzugehen. Wer seine kreativen Köpfe nicht nur fordert, sondern auch fördert und wertschätzt, setzt die richtigen Akzente für die Entwicklung und Vermarktung innovativer Ideen.

Unternehmeredition: Herr Prof. Bullinger, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Markus Hofelich.
markus.hofelich@unternehmeredition.de



Zur Person: Prof. Hans-Jörg Bullinger

Prof. Hans-Jörg Bullinger ist Präsident der Fraunhofer Gesellschaft. Fraunhofer ist mit 56 Instituten die größte Organisation für anwendungsorientierte Forschung in Europa. www.fraunhofer.de

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