Web-Industrie auf dem Vormarsch

Seit einigen Jahren hält uns Berlin als neuer deutscher Internet-Hotspot auf Trab. Viele Start-ups mit innovativen Geschäftsideen für den Webbereich tummeln sich hier. Einen erneuten Schub hat die quirlige Szene durch die „mobile Revolution“ erhalten; seitdem konzentrieren sich viele Ideenschmieden auf die Entwicklung von Apps für Smartphones und Tablet-PCs – schlaue Helferlein für den Alltag. Durch die rasante Entwicklung im Webbereich ergeben sich Chancen und Risiken für die klassische Industrie – auch für die IKT-Branche selbst. In puncto Nachhaltigkeit hat der erneute Internet-Höhenflug jedoch noch einige Feuerproben zu bestehen.

Standort gezielt aufbauen

Ein Taxi orten, das Profil des Fahrers herunterladen und zwischen verschiedenen Fahrzeugen wählen? Körpermaße per Webcam exakt vermessen lassen und die Daten zum zielgenauen Shopping in Online-Stores verwenden? Auf Reisen an privat organisierten, außergewöhnlichen Events teilnehmen und alles per Smartphone koordinieren? In der mobilen Welt von heute alles schon möglich. Triebfeder der meisten Entwicklungen in Deutschland ist Berlin, hier haben sich über die letzten Jahre hinweg ungewöhnlich viele junge Gründer mit innovativen Geschäftsmodellen für den Webbereich angesiedelt. Kein Wunder, die Hochschul- und Forschungslandschaft ist exzellent: Mit 22 innerstädtischen Technologieparks und Gründerzentren, vier Universitäten und vielen FHs bietet allein die Hauptstadt eine Fülle an kreativem Potenzial. Hochkarätige Forschungsinstitutionen wie das Hasso Plattner Institut in Potsdam runden den Standort ab. Spezifikum des Standorts Berlins sind außerdem sog. Inkubatoren wie die Zalando-Schmiede Rocket Internet oder Team Europe, Brutkasten für den Online-Lieferservice Lieferheld. Diese Gründerschmieden versorgen ausgewählte Start-ups mit einer begehrten Startfinanzierung und begleiten die ersten Unternehmensschritte, oftmals auch die Gründung aktiv mit. Zudem sind die Lebenshaltungskosten in Berlin noch relativ gering, das kulturelle Leben ist legendär – alles Gründe, weshalb die Spreestadt junge Unternehmer magisch anzieht. Letztendlich wird auch von Seiten der Politik einiges getan, um die Hauptstadtregion als Standort der IT- und Kreativwirtschaft zu profilieren: Auch die IKT-Wirtschaft ist Bestandteil der Gemeinsamen Innovationsstrategie der Länder Berlin und Brandenburg (innoBB), so wollen beide Länder z.B. den Ausbau von Hochgeschwindigkeitsbreitbandnetzen zügig vorantreiben und setzen verschiedene Modellprojekte auf. Über die VC Fonds Technologie und Kreativwirtschaft der Beteiligungsgesellschaft der Investitionsbank Berlin besteht zudem die Möglichkeit, bis zu 3 Mio. EUR an Beteiligungskapital pro Unternehmen einzuwerben.

Internationale Aufmerksamkeit steigt

Dass sich in Berlin einiges tut, beobachtet auch Lydia Benkö, Vice President bei Corporate Finance Partners. Die Unternehmensberatung mit Sitz in Frankfurt ist auch in Berlin vor Ort und hat hier einige bedeutende Deals begleitet. „In den letzten zwei bis drei Jahren war zu erkennen, dass die Entscheider der Branche mehr und mehr ihren Fokus auf Berlin legen“, erzählt sie. Besonders beeindruckt hat sie der Verkauf des Rabatt-Portals Daily Deal für weit über 100 Mio. USD an Google. „Jetzt hoffen wir, dass die allgemeine Präsenz und die Nähe von großen strategischen Finanzinvestoren der Branche steigt“, so Benkö weiter. Auch international bedeutende Venture-Capital-Gesellschaften erscheinen mehr und mehr auf dem Berliner Parkett: Der Online-Lieferservice Delivery Hero konnte sich im August letzten Jahres eine Wachstumsfinanzierung über 40 Mio. USD u.a. durch die internationalen Investoren Kite Ventures und Kreos Capital sichern. Weit abgeschlagen liegt das immerwährende Berliner Erfolgsmodell Zalando, das mit insgesamt 287 Mio. EUR im Jahr 2012 das am besten finanzierte deutsche Internet-Unternehmen überhaupt war. Gesellschafter sind u.a. die New Yorker Großbank J.P. Morgan Chase sowie die dänische Beteiligungsgesellschaft Investment AB Kinnevik.

Mittelstand und klassische IT-Industrie

Doch die Region Berlin-Brandenburg kann noch viel mehr als nur Internet. Auch die klassische mittelständische IKT ist vertreten, z.B. durch Dienstleister im Bereich Telekommunikation und Datenverarbeitung, IT-Beratungsunternehmen sowie Softwarehersteller. „Man muss sich vor Augen halten, dass die IT-Region Berlin-Brandenburg ca. 5.700 Unternehmen mit ca. 50.000 Mitarbeitern bereithält. Davon entfallen natürlich nicht alle auf die Web-Industrie“, so Thomas Schröter, Geschäftsführer der Corporate Finance Beratung Eventurecat, die vor allem für Mittelständler aus dem Bereich IKT, Internet und Mobile tätig ist. Momentan werde die gesamte Branche überblendet von der Internet-Szene, da hier natürlich spektakuläre Entwicklungen z.B. im B2C-Bereich stattfinden. Wenn der Mittelstand jedoch weitreichende Innovationen nicht verschlafen wolle, müsse er sich ranhalten und z.B. mögliche Kooperationen prüfen, so Schröter weiter: „Allein im Bereich Software as a Service gibt es Neugründungen, die nichts anderes machen, als die ganze Company auf dieses Geschäftsmodell auszurichten. Gleichzeitig haben sie keine Altlasten und schlanke Strukturen und vor allem Mitarbeiter mit dem entsprechenden Know-how. Solche jungen Unternehmen tun sich natürlich viel leichter, ein Produkt in relativ kurzer Zeit auf den Markt zu bringen, als ein klassischer IT-Betrieb, der durch Alt- und Bestandskunden belastet ist.“

Alles nur Hype?

Mehr Zusammenarbeit zwischen etablierten Branchen und den jungen Start-ups aus Berlin wünscht sich auch Dr. Rouven Westphal, Managing Director bei Hasso Plattner Ventures in Potsdam. Mit Hitfox, Sponsorpay und dem Social Network sMeet befinden sich auch einige junge Berliner Unternehmen im Portfolio der Beteiligungsgesellschaft. Dennoch ist Westphal froh, in Potsdam etwas außerhalb des Geschehens der „hippen“ Szene zu sein. Vor allem von der Nachhaltigkeit der in Berlin entstehenden Unternehmen ist er nicht restlos überzeugt: „Die Berliner Szene ist unheimlich kreativ, das Problem ist aber, dass die meisten Geschäftsmodelle recht simpel sind und keine echte Technologietiefe besitzen. Ich glaube, 50 bis 70% aller Start-ups, die man heute kennt, werden in drei Jahren nicht mehr existieren.“ Nur cool sein reiche eben nicht aus, am Ende müsse auch Geld verdient werden. Potenzial für Kooperationen sieht Westphal jedoch für die klassische Industrie, die es nicht mehr verstehe, ihre schweren Technologien einem Massenmarkt zugänglich zu machen: „Mittlerweile ist es möglich, meinen Blutzucker per iPhone zu messen und per Smartphone meine Haustür abzuschließen. Die Idee ist also, junge kreative Menschen mit der klassischen, innovationsstarken Industrie zusammenzubringen, was bereits teilweise stattfindet“, berichtet er zuversichtlich.


Fazit

Die Berliner Internet-Szene vibriert und kann auch mittelständischen Unternehmen komplett neue Möglichkeiten eröffnen – wenn sie das Innovationspotenzial geschickt für sich zu nutzen wissen. Ein deutlicher Mehrwert kann sich durch die Prüfung neuer Vertriebswege, neue Modelle der Kundenbindung und vielleicht sogar die Erschließung neuer Zielgruppen ergeben. Es bleibt allerdings abzuwarten, welche Geschäftsmodelle sich letztendlich durchsetzen werden.

Verena Wenzelis
verena.wenzelis@unternehmeredition.de

Autorenprofil

Verena Wenzelis war bis Juli 2016 Redakteurin bei der Unternehmeredition.

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