Strukturwandel zwingt Automobilzulieferer zum Umdenken

Aus dem Windschatten ins Zentrum des Sturms

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Die Automobilbranche gilt als erfolgsverwöhnt. Und in der Tat: Seit den Krisenjahren 2008/09 konnten die Hersteller immer wieder neue Absatzrekorde berichten – ein Wachstum, von dem auch die Zulieferindustrie massiv profitierte. Angesichts aktueller Entwicklungen, die zeitgleich tiefgreifende Veränderungen im Markt, bei Produkten und Prozessen mit sich bringen, wächst der Druck auf bislang bewährte Geschäftsmodelle. Mit ihrem hohen Anteil an der Wertschöpfung stehen vor allem auch die Tier2-Automobilzulieferer vor einem gewaltigen Strukturwandel. Was können sie tun, um hier den Anschluss nicht zu verlieren?

Ganz unterschiedliche Trends zwingen die Branche zum Umdenken. Lag bislang der Fokus darauf, vor allem hochwertige, komfortable und leistungsstarke Fahrzeuge zu entwickeln, stellt der Markt heute neue Anforderungen: Das Auto soll vernetzt mit seiner Umwelt agieren und in absehbarer Zeit autonom fahren, alternative Antriebe wie Elektro- oder Brennstoffzellenmotor verdrängen den Verbrenner. Gleichzeitig verschieben sich die Präferenzen der Kunden hin zu Mobilitätskonzepten, die weniger Ressourcenverbrauch und Emissionen versprechen; der statusgetriebene Individualverkehr verliert an gesellschaftlicher Akzeptanz.

Hinzu kommt, dass mit dem wachsenden Anteil der Softwareentwicklung an der Gesamtwertschöpfung und der Erweiterung der automobilen Value Chain um die Bereitstellung von mobilen Diensten und Infrastrukturen neue Wettbewerber auf den Plan treten: Player aus bisher automobilfremden Branchen definieren neue Marktsegmente und erobern sich mit ungewohnten Geschäftsmodellen ihren Platz in den auf Effizienz getrimmten, von hoher Disziplin geprägten Lieferketten.

Gewissheiten sind Vergangenheit

Dies alles führt zu großer Unsicherheit und erhöht die Komplexität in den Wertschöpfungsmodellen. Planbarkeit und langfristige Vorher- bzw. Zusagen werden zur Ausnahme, die Gewinne aus dem traditionellen Geschäft gehen zurück. Das stellt nicht nur die Überlebensfähigkeit und Resilienz einiger Tier2-Zulieferunternehmen per se infrage; das Ausbleiben wirtschaftlicher Stabilität nimmt der Branche darüber hinaus ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Innovationsfähigkeit zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor wird, den bislang so zuverlässigen Rückhalt für strategische und technologische Neuerungen.

Bis heute ist in vielen Bereichen – von Antriebssystemen bis Shared Mobility Services – längst nicht ausgemacht, welche Technologien und Lösungen das Rennen machen werden. Die Akteure sind also gezwungen, in neue Entwicklungen zu investieren und Innovationen zu finanzieren, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Aktuell fließen beispielsweise enorme Summen in die Entwicklung von CASE-Technologien (Connectivity, Autonomous Driving, Shared Mobility, Electrification), ohne dass damit entsprechend Geld zu verdienen wäre.

Kapitalstruktur prüfen – auch mit Blick auf Fernost

Es ist zu vermuten, dass Unsicherheit und Komplexität aufgrund der offenen Technologiefragen noch auf Jahre bestehen bleiben und die Margen der Zulieferer weiter drücken werden. Die Frage, wie die marktübliche Rendite ausreichen soll, um den Wandel mitzugehen oder sogar aktiv zu gestalten, bleibt also virulent. Darum ist es gerade für kleine und mittlere Unternehmen wichtig, sich darüber klar zu werden, ob sie mit ihrer Finanzierungs- und Gesellschafterstruktur realistisch im Markt bestehen können und im Anschluss die eigene strategische Wettbewerbssituation zu evaluieren: Welches sind unsere Alleinstellungsmerkmale? In welchem Teil der Portfolio-Matrix befindet sich das Unternehmen?

Hinsichtlich des Kapitalbedarfs spielt auch das Thema „Global thinking“ versus „Protection“ für die OEM- und Zuliefererbranche künftig weiter eine große Rolle. Immerhin wird zwischenzeitlich jedes dritte Auto in China produziert. In der Abwägung, ob ein weiterer Know-how-Transfer nach China sinnvoll ist, oder der Schutz der regionalen Industrieproduktion im Vordergrund stehen sollte, neigt sich die Waagschale angesichts der aktuellen Lieferkettenproblematik momentan zugunsten der Re-Localisation, also der Rückverlagerung von Wertschöpfung nach Europa. Das zu stemmen wird ebenfalls Finanzkraft brauchen.

Wettbewerb um die beste Mobilitätslösung

Für die Automobilindustrie ist es eine gänzlich neue Situation, sich nicht aus sich heraus weiterentwickeln und den Takt vorgeben zu können, sondern auf Trends von außen reagieren zu müssen. Mit einem Mal sind Attribute wie „etabliert“ und „erprobt“, die über Jahrzehnte Garanten waren für lukrative Geschäfte, buchstäblich weniger wert als Eigenschaften wie „riskant“ und „disruptiv“. Die neuen Wettbewerber des klassischen Zulieferers im Spagat zwischen gestern und morgen sind junge, finanziell oft gut ausgestattete Start-ups mit visionären Geschäftsmodellen, die keiner Tradition verpflichtet sind.

Fazit

Wie immer bringen neue Trends Risiken mit sich – aber sie eröffnen auch neue Chancen. Diese mit Blick auf das eigene Geschäftsmodell zu bewerten, ist ein dringender Auftrag an die Unternehmensstrategen. Hier empfiehlt es sich, die weit verbreitete, ablehnende Haltung gegenüber Innovationen, die nicht aus dem eigenen Haus stammen, einmal außen vor zu lassen und zu prüfen: Wo können wir profitieren? Gibt es eine Möglichkeit, alteingesessene Strukturen aufzubrechen, um beispielsweise CASE-fähig zu werden? Dabei geht es nicht darum, das Bestandsportfolio über Bord zu werfen, sondern zu prüfen, welche der Produkte oder Dienstleistungen einen Ansatz bieten, um neue Geschäftsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte zu schaffen. Das eröffnet eine realistische Chance, vom technologischen Wandel zu profitieren und die Marktposition zu festigen – oder sogar auszubauen.

Autorenprofil
Dirk Müller

Dirk Müller war Manager bei 3M, HELLA und der swoboda-Gruppe auf C-Level und ist heute als Berater im Automotive-Bereich tätig.

Autorenprofil
Bernd Grupp

Bernd Grupp ist Managing Partner der zeugberg consult GmbH und hat in jüngster Vergangenheit mehrere restrukturierungsbedürftige Automobilzulieferer als Interims--Geschäftsführer betreut.

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