Digitale Souveränität als Standortfaktor

Wie ganzheitlicher Datenzugriff den Mittelstand unabhängiger macht  

Digitale Souveränität bietet Wege aus der Abhängigkeit und fördert das Potenzial, effizienter zu werden und aus eigener Kraft zu innovieren.
Die polarisierte Weltlage bietet für den Produktionsstandort Deutschland eine Chance, sich als verlässlicher industrieller Partner zu positionieren. Ein aktueller, systemübergreifender Datenzugriff ist dafür wesentliche Voraussetzung. Foto: @ iStock.com/gorodenkoff

Fachkräftemangel, volatile Lieferketten und steigende Kosten setzen den Mittelstand unter Druck. Zugleich wächst die Abhängigkeit von internationalen Tech-Anbietern – ein Risiko für Unternehmen und den Produktionsstandort Deutschland. Ein ganzheitlicher Datenzugriff bietet Wege aus dieser Abhängigkeit und fördert das Potenzial, effizienter zu werden und aus eigener Kraft zu innovieren.

Der politische Umschwung in den USA hat der Debatte um die digitale Souveränität der deutschen Wirtschaft im ersten Halbjahr 2025 neuen Schwung verliehen. Immer mehr Unternehmen reflektieren ihre Abhängigkeit von internationalen Tech-Anbietern kritisch. Deren Ausmaß ist mittlerweile existenziell, wie eine Studie des Digitalverbands Bitkom im Februar 2025 gezeigt hat: 96 % der deutschen Unternehmen beziehen derzeit digitale Services und Leistungen aus dem Ausland. Mehr als die Hälfte von ihnen glaubt, maximal ein Jahr ohne diese Digitalimporte überleben zu können.

Diese Entwicklung setzt sich fort: 60 % der Befragten erwarten, dass die Importabhängigkeit Deutschlands in den kommenden fünf Jahren weiter wachsen wird. Angesichts zunehmender geopolitischer Unsicherheiten wird sie zu einem immer größeren Risiko; nicht nur für das einzelne Unternehmen, sondern auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt.

Digitale Souveränität: Datenzugriff ist die Basis

Um das zu vermeiden, muss der Mittelstand seine digitale Entscheidungshoheit zurückerobern. Das Stichwort lautet digitale Souveränität. Gemeint ist die Fähigkeit, unabhängig von Dritten über die eigenen IT-Systeme, -Strukturen und Daten verfügen und entscheiden zu können. Der Weg dorthin beginnt mit einem ganzheitlichen Zugriff auf die eigenen Daten. Doch gerade im Mittelstand ist dieser nicht ohne Weiteres gegeben: In vielen Unternehmen sind die IT-Strukturen fragmentiert, Anwendungen laufen isoliert und wichtige Informationen verbergen sich in Datensilos. Systeme und Prozesse sind also nicht miteinander vernetzt, und das kostet nicht nur Selbstbestimmtheit, sondern auch Geld. Denn eine digital vernetzte Wertschöpfungskette ist sowohl die Basis für informierte Entscheidungen als auch für Prozessoptimierung und Innovation.

Simulation als Innovationstreiber

Vor allem in Branchen wie der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau sinkt die Time-to-Market rapide. Hersteller sind gezwungen, ihre Produktentwicklung zu beschleunigen und neue Ideen schneller umzusetzen, um im Wettbewerb mithalten zu können. In einer gezielten und ganzheitlichen Erfassung und Analyse produktbezogener Daten liegt enormes Potenzial, Optimierungsmöglichkeiten zu erkennen und zu nutzen, nicht zuletzt durch Modellierung und Simulation (MODSIM). Diese Prozesse helfen, die Produktentwicklung komplexer Systeme von Monaten auf Wochen zu verkürzen. Ein digitaler Zwilling, also ein digital simuliertes Abbild realer Produkte oder Systeme, ermöglicht es Konstruktionsteams, diese zu testen, zu verbessern und zu validieren, bevor ein physischer Prototyp entsteht. Das ist umso wichtiger, da die Anforderungen an viele Industrieprodukte immer komplexer werden und mehr Tests erfordern.

Simulationsprozesse beschleunigen die Produktentwicklung und sparen Kosten sowie Ressourcen, indem sie unter Umständen ganze Prototypenphasen überflüssig machen. Zudem eröffnen sie neue Innovationspotenziale, etwa durch das systematische Testen neuer Design-Ideen in virtuellen Modellen.

Wertschöpfungsprozesse durchgängig digitalisieren

Die technologische Grundlage für solche Strategien ist eine umfassende Datenbasis, die auf durchgehend digitalisierten Wertschöpfungsprozessen beruht. Vielen Unternehmen fehlt diese jedoch noch, weil sie Fertigungsdigitalisierung nicht End-to-End denken, sie nicht als Management-Thema begreifen und Fertigungsprozesse nicht in Entscheidungsprozesse einbeziehen. Dabei liegen genau hier wesentliche Ansatzpunkte, um Profitabilität, Effizienz und Innovationskraft zu steigern.

Ein Ausdruck dieses Missverständnisses ist auch, dass viele Fertigungsbetriebe ihr ERP-System als zentrale Informationsquelle nutzen. Und das, obwohl dessen Aussagekraft begrenzt ist. Zwar liefern solche Systeme wichtige Kennzahlen zu Warenbeständen, Produktionskosten oder Personalwirtschaft, womit sie unbestritten einen wesentlichen Beitrag zur effizienten Steuerung von Geschäftsabläufen leisten. Einen Einblick in konkrete Prozesse, etwa in der Fertigung, bieten sie jedoch nicht. Damit fehlen produktbezogene Daten – für fertigende Unternehmen ein entscheidender Baustein, um ein vollständiges Bild der eigenen Abläufe zu gewinnen.

Management-Entscheidungen: ERP und PLM gleichwertig betrachten

Das C-Level muss den Produktentstehungsprozess (PEP) als zentralen Werttreiber begreifen und sich aktiv mit den damit verbundenen Optimierungspotenzialen auseinandersetzen. Ein ERP-System ist dabei nur ein Teil der Lösung: Echter Mehrwert entsteht erst dann, wenn Daten aus unterschiedlichen Quellen miteinander verknüpft werden und so eine ganzheitliche Sicht entsteht. Dazu gehören neben ERP-Systemen auch Daten aus Fertigungsprozessen, manuelle Aufzeichnungen, Papierdokumente oder technische Handbücher. In Kombination schaffen sie eine fundierte Datenbasis. Das fällt nicht nur bei Entscheidungen zu Produktbeständen und Kosten ins Gewicht, sondern auch bei der gezielten Optimierung von Produktionsprozessen.

Die technologischen Voraussetzungen dafür bieten Systeme für das Product Lifecycle Management (PLM). Unter strategischen Gesichtspunkten sind diese ebenso wichtig wie ERP-Systeme. PLM-Systeme erfassen und verknüpfen Daten über alle Lebensphasen eines Produkts hinweg, von der Konzeption über das Engineering, die Testung und Validierung bis hin zu Fertigung, Vertrieb, Einsatz und abschließendem Recycling.

PLM verschafft Überblick

Diese durchgängige Digitalisierung des Produktlebenszyklus ermöglicht es Herstellern, präzise nachzuvollziehen, welche Materialien wann, wo und in welcher Menge im Einsatz sind. Zugleich deckt diese Transparenz Schwachstellen und Ineffizienzen auf, was neue Chancen zur Prozess- und Qualitätsoptimierung eröffnet. Auf diese Weise lassen sich Wettbewerbsvorteile sichern, sowohl für das Unternehmen selbst als auch für den Produktionsstandort als Ganzes.

Darüber hinaus fördert die Digitalisierung des Produktlebenszyklus Innovation. So schafft eine ganzheitliche Datenerfassung die Basis für den Einsatz von Simulationstechnologien wie dem digitalen Zwilling. Dies ermöglicht Kosteneinsparungen, höhere Produktivität und neue Absatzchancen, etwa durch datengestützte Geschäftsmodelle. Schon heute entwickeln sich klassische Hersteller, etwa im Maschinenbau, von reinen Produzenten zu integrierten Dienstleistern. Beispielsweise indem sie automatisch Wartungsservices anbieten oder ungenutzte Kapazitäten vermieten. Durch digitalisierte Prozesse entstehen so neue Wertschöpfungsmodelle, die langfristig auch die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts stärken.

Produktionsstandort Deutschland: Digitale Souveränität als Schlüsselrolle

Wer produktbezogene Prozesse nicht in seine Entscheidungen einbezieht, riskiert Abhängigkeiten und verschenkt Innovationspotenzial. Die durchgängige Digitalisierung – insbesondere des PEP – muss Chefsache werden: Sie stärkt nicht nur Effizienz und Profitabilität, sondern auch die Kontrolle über eigene Wertschöpfungsketten. Zudem entlastet sie Fachkräfte, die dadurch höherwertige Aufgaben übernehmen können, und leistet so einen wichtigen Beitrag gegen den Personalmangel in vielen fertigungsrelevanten Berufen. Datengestützte Transparenz erleichtert es außerdem, regulatorische Anforderungen und Berichtspflichten im Bereich Nachhaltigkeit zu erfüllen – ein Feld, das perspektivisch an Relevanz gewinnt.

In einer zunehmend polarisierten Welt bietet digitale Souveränität produzierenden Unternehmen die Chance, sich als verlässlicher Industriepartner mit hohen Qualitätsstandards zu positionieren. Für den Mittelstand bedeutet das: Er muss bei der Digitalisierung aufholen, um mit der Geschwindigkeit des internationalen Wettbewerbs Schritt zu halten. Dies gelingt nur mit einer digitalen Infrastruktur, die Datenhoheit, Sicherheit und Interoperabilität gewährleistet. Ein aktueller, systemübergreifender Datenzugriff ist dabei kein technisches Detail, sondern ein zentraler Bestandteil der Lösung.

Autorenprofil
Peter Schneck
CEO at  | Website

Peter Schneck ist CEO der Cenit AG. Die Cenit AG entwickelt seit über 30 Jahren ganzheitliche IT-Lösungen und -Strategien für Unternehmen aus Schlüsselindustrien wie Automotive, Aerospace, Maschinenbau, Finanzdienstleistungen und Handel. Als CEO verantwortet Peter Schneck das weltweite operative Geschäft sowie die strategischen Bereiche M&A, Marketing und Investor Relations. Sein Fokus liegt auf der digitalen Transformation industrieller Prozesse und nachhaltiger Wertschöpfung durch IT.

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