Rollt die Insolvenzwelle nun doch noch an?

Geopolitische Lage: Einfluss und Konsequenzen auf das (Distressed-)M&A-Geschäft

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Steigen die Unternehmensinsolvenzen wieder an oder haben wir den historischen Tiefstand schon erreicht? Sind die schönen Zeiten für hohe Transaktionsvolumina passé? Wird der immer wieder betonte drohende „Ausverkauf“ deutscher Unternehmen Richtung Osten durch die geopolitische Lage gestoppt? Welche Konsequenzen hat das für Verkäufer und Käufer?

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Nicht nur COVID-19 hat den Markt für Distressed-M&A-Transaktionen in den letzten Jahren stark beeinflusst. Nahezu alle geopolitischen Krisen haben direkte Auswirkungen auf das M&A-Geschehen in Deutschland. Der Krieg gegen die Ukraine ­markiert dabei die viel zitierte „Zeitenwende“, denn seitdem verlieren die deutschen Unternehmen für ausländische Investoren zunehmend an Bedeutung. Dies könnte damit zusammenhängen, dass zahlreiche Geschäftsmodelle – vor dem Hintergrund der extremen Abhängigkeit des deutschen Staates von russischen Energielieferungen – durch die steigenden Energiepreise vermehrt un­ter Druck geraten und zu implodieren drohen. Dazu zählen etwa Branchen wie die Stahlindustrie und Gießereien. Aber nicht nur die Abhängigkeit von russischen Energieimporten macht der Wirtschaft zu schaffen. Die meisten Exporte aus der Europäischen Union nach China stammen aus der Exportnation Deutschland. Insofern besteht ein laten­tes Risiko, dass weltweite wirtschaft­liche Sanktionen gegen China weitreichende Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft hätten, sollte China Russland im Ukrainekrieg militärisch zur Seite stehen.

Ausblick 2022/2023: Da tut sich was!

Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und die enormen staatlichen Unterstützungsprogramme waren 2021 maßgeblich verantwortlich für den historischen Tiefststand an Unternehmens­insolvenzen und die atypische Entwicklung der Insolvenzzahlen. Einige Deal­anbahnungen mit ausländischen Investorengruppen wurden aber auch durch die Lockdowns und erheblichen Reisebeschränkungen abgebrochen beziehungsweise gerieten dadurch zahlreiche Unternehmen selbst unter wirtschaft­lichen Druck. Dazu zählten auch deutsche Firmen mit chinesischer Gesellschafterstruktur, sodass liquide Mittel eher zur Kapitalausstattung anstatt zur Akquisition neuer Beteiligungen an deut­schen Unternehmen genutzt wurden.

Für die Zukunft ist Positives zu berichten: Aktuell steigen die Insolvenzfälle gegenüber dem Vorjahr deutlich an, wenn auch auf einem niedrigen ­Niveau. Die Coronablase verliert nur langsam an Luft, aber Experten rechnen mit steigenden Fallzahlen in den unterschiedlichsten Branchen, maßgeblich getrieben durch die steigenden Energiepreise, die Versorgungsengpässe und eine inflationsbedingte Konsumrückhaltung der Bevölkerung.

Gebremste chinesische Einkaufstour?

Nachdem der Wert der Transaktionen chinesischer Unternehmen in Europa im Jahr 2020 mit circa 1.500 Mio. USD den Tiefpunkt erreicht hatte (2016 Höchstwert bei circa 85.900 Mio. USD), erwarten die Experten für 2022 einen weiteren Anstieg im Vergleich zu 2021 (circa 12.400 Mio. USD) – trotz allem ein vergleichbar niedriges Niveau. Dieses spiegelt sich auch in der Anzahl der ­Unternehmenszukäufe wider: Waren es 2016 noch 309 Unternehmen, so lag die Anzahl anno 2020 bei 132 (Quelle: Statista).

Insofern sind in naher Zukunft we­niger mittlere bis große Transaktio­nen mit chinesischen Investoren in Deutschland zu erwarten. Auch Länder wie Indien und Taiwan haben in Europa ihre Einkaufstouren in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich umsetzen können. Ausschlaggebend waren „Unternehmensbewertungen“, die mit der Entwicklung der angelsächsischen Unter­nehmensbewertung (kapitalmarktorientierter Ansatz) nicht ansatzweise vergleichbar waren.

Die von der chinesischen Regierung 2016 ausgerufene Strategie „Made in China 2025“ hatte sich zum Ziel gesetzt, Know-how in Schlüsselindustrien und -technologien aufzubauen, um in diesen Branchen Hightechindustrien zu errichten. Diese Maxime hat auch weiter­hin Bestand. Auch chinesisch-­deut­sche Joint Ventures dienen am Ende dazu, das deutsche Know-how zu erlernen und zu übernehmen.

Verkäufer und Käufer: gestalten, entflechten, filetieren

Für Verkäufer bedeutet dies: Die überzeichneten Kaufangebote sind vom Tisch, jetzt rücken das stabile Geschäfts­modell, die Machtposition in der Lieferkette, das außergewöhnliche Leistungsangebot in den Vordergrund. Wer nicht verkaufen muss, sollte sein Geschäftsportfolio auf Profitabilität und Zukunfts­fähigkeit überprüfen und jetzt handeln − erprobte Transformationsprogramme vom strategischen Fit bis zur ­operativen Performance können dabei unterstützen.

Als Käufer muss man aufgrund der geopolitischen Unsicherheiten über das mögliche Transaktionsvolumen hinaus insbesondere liquide Reserven in der Hinterhand haben. Jetzt sind die Preise insbesondere im Distressed-Geschäft am Boden. Das bedeutet: Schnäppchen sind möglich! Nach der Transaktion ist dann die Post-Merger-Integration (PMI) aber umso wichtiger, damit in unsicheren Zeiten auch schnell reagiert und bei finanziellen Engpässen „nachgeschossen“ werden kann. Hier können mit der Transaktion einhergehende Refinanzierungsprogramme quasi einen finanziellen Schutzschirm in der PMI-Phase abbilden.

FAZIT

Die aktuelle geopolitische Entwicklung nimmt enormen Einfluss auf das (Dis­tressed-)M&A-Geschäft in Deutschland. Unabhängig von einer steigenden ­Anzahl an Unternehmensinsolvenzen im ersten Halbjahr 2022 in Deutschland und weiteren Insolvenzen bedingt durch den Wegfall staatlicher Unterstützungspakete ist klar: Die Käuferschicht wird sich wei­ter „deglobalisieren“, die Transaktionsvolumina und Unternehmensbewertun­gen werden weiter sinken. Auf unbestimmte Zeit wird der immer wieder beschriebene drohende „Ausverkauf“ deutscher mittelständischer Unternehmen nach China so gedämpft. Im Umkehrschluss bedeutet das: Der prozentuale Anteil der Gesamtübernahmen durch US-Investoren nimmt weiter zu.

Doch ob Käufer oder Verkäufer – mit einer Transaktion gehen Portfoliobereinigung, Neujustierung der Assetbasis, Refinanzierungskonzepte ohne Haf­tungs­brücken und ein systematisches PMI-Programm einher. Jetzt ist die Zeit, zu gestalten, zu entflechten und zu filetieren, ob aus der Insolvenz oder aus dem normalen Geschäftsverlauf.

Dieser Beitrag ist in der Magazinausgabe der Unternehmeredition 3/2022 erschienen.

Autorenprofil
Philippe Piscol

Philippe Piscol ist Partner der Dr. Wieselhuber & Partner GmbH und verantwortet deutschlandweit den Bereich M&A. Seine Schwerpunkte liegen in der Restrukturierung und Sanierung von mittelständischen Unternehmen sowie im Corporate Finance Consulting mit Schwerpunkt Distressed M&A.

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