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Tarifverträge schlagen zurück

Tarifverträge mögen lästig sein: Angesichts vieler drohender Streiks scheint für viele Unternehmen der Ausstieg aus dem Arbeitgeberverband verlockend. Doch die Vorteile sind spärlicher, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. 

In vielen Unternehmen ist die Sorge vor überzogenen Entgelterhöhungen Anlass für Überlegungen, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten oder über eine sogenannte OT-Mitgliedschaft, also ohne Tarifbindung, nachzudenken. Die Vorteile scheinen auf der Hand zu liegen: Die gefürchtete Bindung an künftige Tarifverträge entfällt. Auf der anderen Seite scheinen die Nachteile gering, da auch die Vollmitgliedschaft mit Tarifbindung im Arbeitgeberverband keinen umfassenden Schutz davor bietet, als einzelnes Unternehmen etwa bei Umstrukturierungen Ziel eines Streiks zu werden. Gegen einen ansonsten drohenden Mitgliederschwund haben die allermeisten Arbeitgeberverbände die sogenannte OT-Mitgliedschaft eingeführt, um den Unternehmen eine Möglichkeit zum Verbleib im Verband zu geben, ohne sich an die Tarifverträge zu binden.

Tarifverträge: Nachbindung und Nachwirkung

Entgegen der Vorstellung in manchen Unternehmen erhöht ein Wechsel in die OT-Mitgliedschaft oder ein Verbandsaustritt selbst jedoch noch nicht die Entscheidungsfreiheit des Unternehmens. Denn keines von beiden kann für sich die zwingende gesetzliche Bindung an Tarifverträge beenden. Es bleibt vielmehr zunächst unverändert dabei, dass die im Zeitpunkt des Endes der Vollmitgliedschaft bestehenden Tarifverträge zwingend weiter gelten. Dies bedeutet auch, dass es dem Unternehmen – wie zuvor – verboten ist, einzelvertraglich zum Nachteil der Arbeitnehmer vom Tarifvertrag abzuweichen. Dieser Zustand endet erst, wenn der Tarifvertrag von den Tarifpartnern gekündigt oder geändert wird. Hierbei führt schon eine geringfügige Änderung – also beispielsweise eine neue Regelung zu Jubiläumszahlungen – das Ende der Tarifbindung herbei.

Damit sind die tarifvertraglichen Regelungen aber noch immer nicht vom Tisch. Die Tarifverträge wechseln nur von der Nachbindung in die sogenannte Nachwirkung. Dies bedeutet einerseits, dass die Tarifverträge nicht mehr automatisch für Neueinstellungen gilt und andererseits, dass mit allen Arbeitnehmern von den Tarifverträgen (nachteilig) abweichende Regelungen vereinbart werden können. Einzige Ausnahme ist der Sonderfall des Verlustes der Tarifbindung durch Betriebsübergang: Hier gilt eine einjährige Änderungssperre. Bevor es jedoch eine neue individuelle Regelung gibt, gelten – um keine inhaltsleeren Arbeitsverhältnisse entstehen zu lassen – die tarifvertraglichen Regelungen, wie sie beim Verbandsaustritt bestanden, quasi als arbeitsvertragliche Regelungen fort.Tarifverträge mögen lästig sein: Angesichts vieler drohender Streiks scheint für viele Unternehmen der Ausstieg aus dem Arbeitgeberverband verlockend. Doch die Vorteile sind spärlicher, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. 

Meist machen Unternehmen von der neu gewonnenen Freiheit zunächst dadurch Gebrauch, dass sie bei Neueinstellungen die Konditionen verändern und mit den neu geworbenen Mitarbeitern beispielsweise ein vom Tariflohn abweichendes Entgelt vereinbaren. Tarifrechtlich steht dem ja auch nichts mehr entgegen. Umso überraschter zeigen sich viele Unternehmen, wenn daraufhin ihr Betriebsrat vor der Tür steht und eine Verletzung seines Mitbestimmungsrechts rügt.

Erste Überraschung: Bindung an das betriebliche Entgeltschema

Während der Dauer der Tarifbindung spielt der Betriebsrat in Sachen Vergütungsregelung in der Regel keine Rolle. Sozusagen durch die Hintertür hat sich aber durch die Anwendung der tariflichen Entgeltstruktur eine betriebsverfassungsrechtliche Bindung eingeschlichen. Jede Änderung der Entgeltstruktur unterliegt dann der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrates. Diese betriebliche Entgeltstruktur gilt als geändert, sobald sich ein Arbeitgeber beispielsweise entschließt, Neueinstellungen kein Weihnachtsgeld mehr zu zahlen.

Ohne den Betriebsrat zu fragen, besteht die einzige Möglichkeit von der Tariffreiheit Gebrauch zu machen darin, die Entgelthöhe gleichmäßig abzusenken oder zu erhöhen. Dies setzt indes voraus, dass die Erhöhung oder Absenkung gleichmäßig und proportional für sämtliche Entgelt- und damit Arbeitnehmergruppen erfolgt. Diese Möglichkeit bringt in der Praxis meist keinen Nutzen. Das Problem liegt auf der Hand: Während es dem Unternehmen darum geht, bei den gering qualifizierten Arbeitnehmern Kosten durch Lohnsenkungen einzusparen, hätte es keine Chance, begehrte Facharbeiter zu finden, wenn es kein attraktives Gehalt bieten kann.

Regelmäßig wird somit die Tarifbindung gegen eine betriebsverfassungsrechtliche Bindung getauscht. Einen wichtigen Unterschied gibt es jedoch: Der Betriebsrat hat keine Möglichkeit, den Arbeitgeber zur Zahlung höheren Entgelts zu zwingen.Tarifverträge mögen lästig sein: Angesichts vieler drohender Streiks scheint für viele Unternehmen der Ausstieg aus dem Arbeitgeberverband verlockend. Doch die Vorteile sind spärlicher, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. 

Zweite Überraschung: Arbeitsvertrag

Ein anderer wichtiger Punkt, der oft übersehen wird, ist der individuelle Arbeitsvertrag. Meist enthalten die Arbeitsverträge sogenannte Bezugnahmeklauseln. Durch diese wird innerhalb des Arbeitsvertrages auf die tarifvertraglichen Regelungen verwiesen. Die frühere Rechtsprechung, die solche Bezugnahmeklauseln dahin interpretierte, dass durch sie lediglich nichttarifgebundene Arbeitnehmer mit Gewerkschaftsangehörigen gleichbehandelt werden sollten (sogenannte Gleichstellungsabrede), gilt nicht mehr. In Verträgen, die nach dem 1. Januar 2002 geschlossen oder geändert wurden, gilt eine solche Verweisungsklausel als eigenständige Regelung zur Tarifvertragsgeltung. Je nach Wortlaut kann eine Klausel somit dazu führen, dass der Arbeitgeber dynamisch an den Tarifvertrag gebunden bleibt. Das Unternehmen hätte sich also zwar aus der normativen Geltung des Tarifvertrages befreit, bliebe aber über den individuellen Arbeitsvertrag zur Weitergabe künftiger Tariflohnerhöhungen verpflichtet.

Fazit

Vor einer Entscheidung zur Beendigung der Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband sollte ein Unternehmen daher stets einen kritischen Blick auf die bestehenden Arbeitsverträge werfen und ein Konzept erarbeiten, wie es – zusammen mit dem Betriebsrat – künftige Änderungen des betrieblichen Entgeltschemas durchführen möchte. Nur so kann es feststellen, ob sich der Schritt heraus aus der Tarifbindung lohnt.


Zur Person

(© Privat)

Dr. Gudrun Germakowski ist Partnerin von McDermott Will & Emery Rechtsanwälte Steuerberater LLP und gehört dem arbeitsrechtlichen Dezernat des Standorts Düsseldorf an. Sie ist Fachanwältin für Arbeitsrecht und Co-Autorin eines Kommentars zur Arbeitnehmerüberlassung. www.mwe.com

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