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Schwellen überschreiten – Teil 1

In einigen Ländern der Emerging Markets herrscht Aufbruchstimmung, andere sind nach schwierigen Jahren wieder auf Erholungskurs. Nun sorgt der frischgebackene US-Präsident Donald Trump für Unsicherheit. Deutsche Mittelständler lassen sich davon aber kaum irritieren. 

Es war zu einer Zeit, lange bevor die Abkürzung BRIC für die vier aufstrebenden Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China geprägt war. Den Begriff „Next Eleven“, der ab 2005 die elf aussichtsreichsten Emerging Markets zusammenfasste, gab es noch nicht. Und das jüngste Akronym MIST, das für die Schwergewichte aus den „Next Eleven“ Mexiko, Indonesien, Südkorea und die Türkei steht, sollte Jahre auf sich warten lassen. Es war im Jahr 1994, als ein deutscher Hersteller von Gehäuse- und Schaltschränken sich auf den Weg nach Indien machte: die Rittal GmbH & Co. KG mit Hauptsitz im hessischen Herborn.


“Für Unternehmen, die Potenzial im lokalen indischen Markt erkennen, ist das Land durchaus interessant.”

Matthias Betz, Marktleiter Asia, Pacific, Middle East, Rittal GmbH & Co. KG


„Wir haben in diesem Jahr zunächst eine Vertriebsgesellschaft in Bangalore gegründet“, berichtet Mathias Betz, Marktleiter Asia, Pacific, Middle East. Vier Jahre später folgte die Produktion. Heute ist Rittal der größte Hersteller von standardisierten Schaltschranksystemen auf dem Subkontinent, beschäftigt dort 1.250 Mitarbeiter an acht Standorten, hat 18 Büros und fünf eigene Warenlager. Die Zentrale und die Produktionen befinden sich noch immer in Bangalore. Und Rittal ist in Indien sehr zufrieden.

„Im Unterschied zu anderen südostasiatischen Staaten wird in Indien zwar wenig produziert“, sagt Betz. Lediglich 16 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entfallen auf die Warenproduktion. „Neben China und Russland gehört Indien aber zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt“, erklärt er. Daher sei der Subkontinent gerade für die Industrie und die IT-Infrastruktur sehr attraktiv. „Für Unternehmen, die Potenzial im lokalen indischen Markt erkennen, ist das Land durchaus interessant“, findet Betz. Es sei allerdings wichtig, dass sie zumindest nach einer gewissen Zeit in eine Produktion vor Ort investieren und bereit sind, sich langfristig zu engagieren.

Keine Angst vor Donald Trump

Betz‘ Unternehmen jedenfalls will in Indien weiter wachsen. Dass der neue US-Präsident Donald Trump lautstark „America first“ ankündigt, protektionistische Bestrebungen kundtut, Handelsbarrieren aufbauen will und gerade in den Schwellenländern für enorme Unsicherheit sorgt, kümmert die Herborner wenig. „Die USA sind zwar nach den Vereinigten Arabischen Emiraten der wichtigste Exportmarkt Indiens“, sagt Betz. Die Außenhandelsaktivitäten des Landes seien im Vergleich zur Wirtschaftskraft aber eher gering. „Selbst bei einem erschwerten Zugang zum amerikanischen Markt erwarten wir keine signifikanten wirtschaftlichen Einbrüche“, erklärt er.

Ähnlich wie der Herborner Hersteller von Schaltschränken sehen viele mittelständische Unternehmen derzeit zwar Abschottungstendenzen, wirtschaftliche und geopolitische Risiken, die den Welthandel bedrohen. Dennoch will jeder zweite Mittelständler in den kommenden drei bis fünf Jahren an seiner Auslandsstrategie festhalten, wie eine repräsentative Umfrage der DZ Bank zeigt. Für mehr als die Hälfte der Firmen steht sogar ein Ausbau des Auslandsgeschäfts an. Nur ein Drittel der 801 befragten Unternehmen, die sich jenseits der bundesdeutschen Grenzen engagieren, erwartet, dass aktuelle politische und ökonomische Turbulenzen negative Folgen für ihre Geschäfte haben könnten. Lediglich zehn Prozent wollen sich aus schwierigen Auslandsmärkten zurückziehen, von den größeren Mittelständlern mit Jahresumsätzen zwischen 50 und 125 Mio. Euro hegt kein einziger solche Pläne. Und das, obwohl immerhin 20 Prozent der befragten Firmen in asiatischen Schwellenländern und 15 Prozent in Russland tätig sind.

Das verlangsamte Wirtschaftswachstum in China, Ölpreisverfall und Wirtschaftssanktionen in Russland, die Rezession in Brasilien, hohe Handelszölle in Indien und nicht zuletzt der Wahlsieg Donald Trumps: Den deutschen Mittelstand scheinen diese Probleme kaum davon abzuhalten, weiterhin in den BRIC-Staaten aktiv zu sein. Zudem haben die Unternehmen längst weitere interessante Märkte für sich entdeckt, in denen sie bleiben wollen. Vietnam gehört dazu, auch Indonesien und Südkorea bieten Chancen. Andererseits warnen Schwellenländer-Experten vor zu viel Optimismus. Denn auch wenn sich die wirtschaftliche und politische Situation in Ländern wie Russland oder Brasilien zuletzt verbessert hat, auch wenn Staaten wie Indien oder Vietnam ein gesundes Wachstum erzielen und Südkorea stabil aufgestellt ist – die Risiken einer Expansion in ein Schwellenland sind derzeit nicht zu unterschätzen.

In einigen Ländern der Emerging Markets herrscht Aufbruchstimmung, andere sind nach schwierigen Jahren wieder auf Erholungskurs. Nun sorgt der frischgebackene US-Präsident Donald Trump für Unsicherheit. Deutsche Mittelständler lassen sich davon aber kaum irritieren. 

Hürden in Indien

Produktion in Indien: Rittal beschäftigt im Land 1.250 Mitarbeiter an acht Standorten.

„Natürlich hat man als deutsches Unternehmen in Indien Hürden zu nehmen“, sagt Rittal-Mann Betz. So erschwere das fehlende Freihandelsabkommen zwischen Deutschland und Indien den internationalen Handel. Problematisch seien auch die hohen Einfuhrzölle von bis zu 20 Prozent und das enorm komplizierte Zollsystem in den 29 Bundesstaaten des Landes. „Wenn Waren zwischen einzelnen Lagern transportiert werden sollen, ist das nur über den Verkauf und damit über die Zahlung lokaler Steuern möglich“, sagt Betz. Darüber hinaus sei die mangelhafte Infrastruktur immer wieder eine Ursache für Komplikationen bei der Warenlieferung. „Auch die Umsetzung von Reformen, überhaupt politische Prozesse sind in Indien recht langwierig“, weiß Betz. Und nicht zuletzt böten das Kastensystem, das eine Kluft zwischen Arm und Reich schafft, die verschiedenen Ethnien und religiösen Gruppierungen ein latentes Potenzial für soziale Spannungen.

„Andererseits ist die Regierung unter Premierminister Narendra Modi sehr investitionsfreudig“, erklärt Betz. So soll die Initiative „Make in India“, die Modi im September 2014 gestartet hat, das Land zu einem attraktiven Produktionszentrum für global agierende Unternehmen machen. „Der indische Premierminister hat erkannt, dass das Land unbedingt in seine Infrastruktur investieren muss“, sagt Gottfried Finken, Bereichsleiter strukturierte Finanzierungen und Schwellenländer-Experte bei der DZ Bank. Ziel der einzelnen Projekte, die „Make in India“ umfasst, ist es, die Verkehrstechnik zu modernisieren, die Energieversorgung zu stabilisieren, Industrieparks zu schaffen und eine bessere Ausbildung der Arbeiterschicht zu fördern. Die Regierung hat zum 1. Januar 2017 außerdem eine nationale Steuerreform angekündigt, die den Warenverkehr zwischen den Bundesstaaten vereinfachen soll. Viele Pluspunkte.

„Ich sehe allerdings nicht, dass die Reformen der Regierung so richtig vorankommen“, kritisiert Lutz Karpowitz, Experte für Emerging Markets bei der Commerzbank. Wenigstens verzeichne das Land hohe Wachstumsraten zwischen sieben und acht Prozent. Und dabei handelt es sich um ein Wachstum, das tatsächlich über sinnvolle Investitionen erreicht wird. „In China ist das ganz anders“, gibt Karpowitz zu bedenken. Zwar liege das offizielle Wachstum zwischen 6,5 und sieben Prozent und damit ebenfalls immer noch hoch. „Ich habe aber Zweifel an den Daten, die die Regierung veröffentlicht“, sagt Karpowitz.

Hausgemachte Probleme in China

Zweifel dürften berechtigt sein, immerhin leidet das Land unter enormen Überkapazitäten, die vor allem den Konjunkturprogrammen der Regierung geschuldet sind. Mit diesen Programmen konnte sich China nach der Krise von 2008/2009 zwar zunächst gut erholen, denn Lokalregierungen nahmen über Finanzierungsvehikel Kredite auf, investierten verstärkt in Infrastrukturprojekte, schufen Arbeitsplätze. Doch weil sich die Volksrepublik das Ziel „Wachstum um jeden Preis“ auf die Fahne geschrieben hatte, wurde – gestützt durch die zentrale Notenbank – immer weiter investiert.


“In der Tischkultur hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert.”

Curt Mertens, Geschäftsführer Carl Mertens GmbH


Inzwischen will die chinesische Regierung Überkapazitäten vor allem in den Sektoren Stahl, Kohle, Zement, Sand oder in den Raffinerien abbauen. Aber das funktioniert nicht wie gewünscht. „Wenn die Zentralregierung etwa anordnet, dass Raffinerien aufgrund von Überkapazitäten geschlossen werden sollen, dann beginnen die regionalen Regierungen zu investieren, und dann passt es scheinbar wieder“, erklärt Karpowitz. Bei einem Gesamtverschuldungsgrad von 282 Prozent im Jahr 2015 und einer Investitionsquote von 45 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bleibt für weitere Investitionen auf Pump aber kaum Platz. Zudem dreht in China die Demografie. „Ich halte die Wachstumsraten, die die Regierung prognostiziert, daher nicht für realistisch“, sagt Karpowitz.

Curt Mertens macht sich um das Wirtschaftswachstum im Reich der Mitte keine Gedanken. Der Geschäftsführer der Carl Mertens GmbH mit Sitz in Solingen ist gerade erst von einer Messe in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan zurückgekehrt. „Dort haben wir gemeinsam mit unserem chinesischen Partnerunternehmen eine hundertprozentige Vertriebstochter gegründet“, berichtet Mertens. Mit einem chinesischen Partner zu arbeiten, war keine Entscheidung, die der Hersteller von edlem Besteck aus freien Stücken getroffen hat. „In der Tischkultur hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert“, sagt Mertens. Auf diesen Strukturwandel hatte die Carl Mertens GmbH allerdings zu spät reagiert, sodass das Unternehmen in Bedrängnis kam.

Passende Produkte entwickeln

Messer von Mertens: In China sind sie zunehmend beliebt.

„Im Jahr 2014 haben wir daher Insolvenz angemeldet und für die zusammen mit dem Insolvenzverwalter gegründete Auffanggesellschaft einen Investor gesucht“, erzählt der Geschäftsführer. Im Mai 2015 stieg der chinesische Edelstahlproduzent Sichuan Lihue Forging Ltd. in die neue Carl Mertens International GmbH ein. Bereut hat Curt Mertens diesen Schritt keineswegs. „Ganz im Gegenteil, China ist für uns ein sehr interessanter Markt“, sagt der Unternehmer. Europäische, vor allem deutsche Qualitätsprodukte erfreuten sich in der Volksrepublik zunehmender Beliebtheit. „Natürlich muss man sehr oft im Land sein, mit den Kunden sprechen, auf Messen vertreten sein“, sagt Mertens. Das sei bei den großen Entfernungen im Land natürlich nicht so einfach. „Man muss auch Produkte entwickeln, die auf die speziellen Bedürfnisse der Menschen in China abgestimmt sind“, erläutert er. Der Aufwand lohne sich aber.

„Die Messe war für uns so erfolgreich, dass wir unser Besteck künftig nicht mehr nur über das Internet anbieten, sondern 2017 auch einige Shops in Chengdu gründen wollen“, berichtet Mertens. Der Ausgang der US-Wahlen beunruhigt ihn genauso wenig wie das verlangsamte Wachstum oder die wirtschaftlichen Probleme Chinas. „Das Land ist riesig, wenn wir nur ein Prozent der Bevölkerung mit unseren Produkten erreichen würden, dann wären das immerhin 13 Millionen Kunden“, sagt er optimistisch. „Ich sehe in China große Chancen.“

Lesen Sie hier Teil 2 der Titelgeschichte

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