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Ganz schön viele und total verschieden

Die Masse der Unternehmer mit Migrationshintergrund in Deutschland ist so heterogen wie Deutschland selbst. Dabei haben sich Selbstständige mit Migrationshintergrund nicht nur zum unverzichtbaren Element der Nahversorgung in Ballungsräumen entwickelt, sondern werden auch zu einem immer wichtigeren Teil im wissensintensiven und im produzierenden Gewerbe – oder kurz im berühmten deutschen Mittelstand. 

Es sind viele: Etwa zehn Mal die ausverkaufte Allianz Arena in München oder ungefähr die Einwohnerzahl von Frankfurt am Main. 709.000 Männer und Frauen stark ist eine Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die bis auf ein Wesensmerkmal zumeist nicht sonderlich viel verbindet. Es geht um Selbstständige mit Migrationshintergrund. Diese Zahl veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung vor Kurzem im Rahmen der Studie „Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2014“. Einer von ihnen ist Abdullah Altun.

Irgendwo im Ruhrgebiet arbeiten seine Männer in orangener, mit Reflektoren versehener Arbeitskleidung an einer Bahnstrecke. Seine Firma, die Altun Gleis- und Tiefbau GmbH aus Duisburg, bietet neben Gleisoberbau auch Schienenschweißtechniken und Gleistiefbauarbeiten an. Mehr als 90 Mann beschäftigt das 1999 gegründete Unternehmen im Moment. Mehr als 50 Prozent davon haben ihre Wurzeln, wie Altun selbst, in der Türkei. Viele seiner Mitarbeiter haben keinen besonders guten Schulabschluss, trotzdem hat ihre Arbeit Kunden wie die Deutsche Bahn in die Auftragsbücher der Altun Gleis- und Tiefbau GmbH gebracht. „Glücklich kann man nicht mit Geld, sondern nur mit guten Taten werden“, sagt Altun. „Und meine guten Taten sind Randgruppen oder Benachteiligten eine Chance zu geben.“ Dass er auch Schüler mit schlechten Noten zu Bewerbungsgesprächen einlädt, liegt allerdings auch unter anderem am allgemeinen Fachkräftemangel, den Deutschland momentan zu beklagen hat. „Branchenspezifischer Fachkräftemangel ist ein Problem, vor dem sowohl Unternehmer mit Migrationshintergrund als auch ihre Kollegen ohne stehen“, sagt Armando García Schmidt, Herausgeber der Bertelsmann Studie.


„Glücklich kann man nicht mit Geld, sondern nur mit guten Taten werden“

Abdullah Altun, Geschäftsführer Altun Gleis- und Tiefbau GmbH


Mehrwert durch Heterogenität

Die Anzahl der Arbeitnehmer, die ihre Anstellung bei einem Unternehmer mit Migrationshintergrund finden, steigt stetig. Der geschaffene Beschäftigungsbeitrag lag im Beobachtungsjahr der Studie 2014 bei 1,3 Millionen Menschen, die mehr als 700.000 Selbstständigen nicht mitgerechnet. Tendenz steigend. „Wir haben in Deutschland eine heterogene Gesellschaft, und wir wollten herausfinden, was diese Heterogenität zu Wirtschaft und Gesellschaft beiträgt“, erklärt Schmidt die Grundintention. „Wir glauben mit unseren Ergebnissen zeigen zu können, dass Migranten einen wichtigen Beitrag zur Lebendigkeit und Dynamik des deutschen Mittelstands leisten.“ Zumal das Durchschnittsalter der Unternehmer mit Migrationshintergrund das der ohne deutlich unterschreitet. 

Die Masse der Unternehmer mit Migrationshintergrund in Deutschland ist so heterogen wie Deutschland selbst. Dabei haben sich Selbstständige mit Migrationshintergrund nicht nur zum unverzichtbaren Element der Nahversorgung in Ballungsräumen entwickelt, sondern werden auch zu einem immer wichtigeren Teil im wissensintensiven und im produzierenden Gewerbe – oder kurz im berühmten deutschen Mittelstand. 

Der heute 50-jährige Abdullah Altun kam als Kind einer türkischen Einwandererfamilie nach Deutschland. Als Junge habe er schnell gemerkt, dass Sprache und Kultur die Grundlage zum Schlüssel zur Gesellschaft darstelle. „Ich konnte Skat spielen, ich konnte deutsche Witze erzählen und verstehen. Doch nur wenn man sich mit Kultur und Lebensweise eines Landes identifiziert, kann man den Alltag miterleben.“ Nicht umsonst fragt er Bewerber nach dem Namen des Duisburger Bürgermeisters und des Bundespräsidenten, aber auch nach Auf- und Absteigern der Fußballbundesliga. Trotz aller Bemühungen und einer von der Bundesregierung überreichten Integrationsmedaille hat Altun noch immer regelmäßig mit Vorurteilen von Kunden zu kämpfen. „Man muss sich jeden Tag neu beweisen und zeigen, dass man Fachmann ist. Ich versuche Vorurteilen mit Fachwissen zu begegnen.“ Zum Unternehmer wurden Altun, weil er nach seiner Ausbildung zum Gleisbauer schnell am oberen Ende der Karriereleiter in seinem damaligen Betrieb angekommen war. „Die Entscheidung fiel dann von heute auf morgen.“ Ohne Beratung und ohne Business Plan.

Geschäftsführer Abdullah Altun: Mehr als die Hälfte seiner Mitarbeiter hat ihre Wurzeln in der Türkei

Keiner wie der andere

„Viele Migranten haben einen großen Drang, etwas zu schaffen und sich in dieser Gesellschaft zu bewähren“, sagt Nadine Förster, Leiterin der Fachstelle Migrantenökonomie des deutschlandweit größten arbeitsmarktpolitischen Netzwerks IQ (Integration durch Qualifikation). Dessen Ziel ist neben der Gründungsunterstützung und der Beratung zur Sicherung von Migrantenunternehmen auch die Information und Aufklärung zum Thema. Förster befindet sich dabei genau an der Schnittstelle zwischen Praxis und Politik. „Wir bekommen auf der einen Seite Bedarfe aus der Praxis rückgemeldet, um Services und Lösungen zu entwickeln, formulieren auf der anderen Seite aber auch politische Empfehlungen.“ Unternehmern oder Migranten, die über eine Gründung nachdenken, den Erstkontakt mit offiziellen Institutionen, wie etwa Kammern, zu erleichtern, ist eines der Ziele der Fachstelle.

Oft, so die Erfahrung von Förster, fehlt das grundsätzliche Vertrauen in die Behörde oder ist deren Angebot schlicht nicht bekannt. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Bertelsmann Studie im qualitativen Teil der Veröffentlichung. „Oft ist die Schwellenangst größer als die Hoffnung, Hilfe zu finden“, sagt Schmidt. „Es sind klar Potenziale da, aber die müssen gemeinsam mit diesen Institutionen gehoben werden.“ Genau das versucht das IQ-Netzwerk: „Wir haben Teilprojekte, in denen wir ganz bewusst mit migrantischen Vereinen zusammenarbeiten.“ Dadurch soll Aufklärungsarbeit geleistet und das Angebot unter möglichen Interessenten bekannt gemacht werden.

Die Masse der Unternehmer mit Migrationshintergrund in Deutschland ist so heterogen wie Deutschland selbst. Dabei haben sich Selbstständige mit Migrationshintergrund nicht nur zum unverzichtbaren Element der Nahversorgung in Ballungsräumen entwickelt, sondern werden auch zu einem immer wichtigeren Teil im wissensintensiven und im produzierenden Gewerbe – oder kurz im berühmten deutschen Mittelstand. 

Ich bin Deutschland-Fan

„Ich habe mich immer nur als Gründer gesehen“, sagt Ali Jelveh. Er ist Co-Founder der Protonet GmbH, mit Sitz in Hamburg. 2012 gegründet, machte das Unternehmen mit einer cloudbasierten Serverlösung von sich hören, mit der Daten von Firmen, aber auch von Privatpersonen vor unerwünschtem Zugriff gesichert werden sollen. „Ich hatte auch nie Schwierigkeiten damit, dass ich Ausländer bin.“ Erst als die Thematik wiederholt von außen an ihn herangetragen wurde, habe er gemerkt, dass viele Entscheidungen und Taten unbewusst durch seine Vergangenheit beeinflusst wurden, denn: „Ja, es stimmt: Ich bin Gründer mit Migrationshintergrund, und was bisher in meinem Leben passiert ist, hat sich auf viele Dinge, die ich tue, ausgewirkt.“

Gründer mit Migrationshintergrund: Ali Jelveh, Co-Founder der Protonet GmbH

Gegründet in Hamburg, versucht sich Protonet mittlerweile ein zweites Standbein in den USA aufzubauen. Durch die Teilnahme am begehrten Y Combinator, einer exklusiven Plattform für Tech-Unternehmen, dessen Kraft schon Branchenriesen wir Airbnb oder Dropbox für ihren Aufstieg nutzten, konnte Protonet Kontakte knüpfen und Erfahrungen direkt im Silicon Valley sammeln. Im Moment arbeitet das Unternehmen an ZOE, einem Hub und Server für Smart-Home-Komponenten. Deutschland bleibt dabei aber fest im Fokus von Protonet. „Ich liebe das Qualitätsbewusstsein, die Liebe zum Detail, die es in Deutschland gibt, dass wir Werte haben und deren starke Präsenz“, schwärmt Jelveh.

Im Alter von vier Jahren flüchtete er zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter aus dem Iran. Zunächst nach Frankreich und schließlich in die Hansestadt. „Im Iran gab es 1984 ein kleines Zeitfenster, in dem es möglich war, rauszukommen.“ In der umkämpften Heimat blieben nicht nur der Vater und eine große Familie zurück, sondern mit ihnen Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit. „Innerhalb von drei Tagen waren meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich vollkommen auf uns allein gestellt.“ Angekommen am Flughafen in Paris sei seine Welt zusammengebrochen. „In diesem Moment habe ich entschieden, dass mir diese totale Ohnmacht nicht mehr passieren wird.“ Bei der Gründung von Protonet waren diese Erfahrungen prägend. „Die Menschen haben sich mit dem Internet ein Wunder erschaffen“, sagt Jelveh. Und obwohl dieses immer wichtiger für den Alltag der Menschen werde, hat er den Eindruck, dass sich die Entscheidungs- und Steuerungsgewalt darüber bei einigen wenigen konzentriere. „Ich habe plötzlich Angst bekommen. Ich kenne zentralistische Systeme, da entscheiden ein paar Leute über Generationen, berauben sie ihrer Freiheit.“ Das hinsichtlich des World Wide Webs zu verhindern, sei der Kerngedanke bei der Firmengründung gewesen. 

Die Masse der Unternehmer mit Migrationshintergrund in Deutschland ist so heterogen wie Deutschland selbst. Dabei haben sich Selbstständige mit Migrationshintergrund nicht nur zum unverzichtbaren Element der Nahversorgung in Ballungsräumen entwickelt, sondern werden auch zu einem immer wichtigeren Teil im wissensintensiven und im produzierenden Gewerbe – oder kurz im berühmten deutschen Mittelstand. 

Benötigtes Potenzial

Ähnliche Geschichten wie seine können im Moment zu Hunderttausenden in Deutschland erzählt werden. Das Thema Flüchtlinge beschäftigt das ganze Land seit nunmehr über einem Jahr. „Ich glaube, was passiert ist, ist unsere größte Chance“, sagt Jelveh. Nadine Förster geht noch weiter. „Die Meinungen von Migrationsforschern, dass wir mindestens 500.000 Menschen gut integrieren müssen, um den Lebensstandard zumindest annähernd halten zu können, ist bekannt. Es wird im öffentlichen Diskurs jedoch weithin ausgeklammert.“ Abdulla Altun hat versucht, auch Flüchtlingen eine Chance in seinem Unternehmen zu geben. Bisher ohne Erfolg, erzählt er enttäuscht.Obwohl er sich von Anfang an mit örtlichen Behörden und Sozialträgern zusammengesetzt hätte, fehlten bei den bisherigen Interessenten sogar diejenigen Grundbedingungen, die er lediglich für ein Praktikum voraussetzen würde.

Quelle: © Bertelsmann Stiftung 2016

Doch nicht nur aufseiten der Asylbewerber fehlt noch oft die nötige Basis, um am Arbeitsmarkt bestmöglich teilzunehmen. Auch an institutioneller Stelle fehlen häufig die Voraussetzungen, um die Potenziale der Zuwanderer besser nutzen zu können. Gerade Migranten, die bereits in ihren Heimatländern unternehmerische Erfahrungen sammeln konnten, müssten spezifischer unterstützt werden, fordern die beiden Experten Schmidt und Förster.„Aktuell haben wir viel zu tun, aber manchmal träume ich davon, dass in 20 Jahren belächelt wird, welche Zugangshürden wir im Moment noch bearbeiten“, sagt Förster. Abduallah Altun wird sein Möglichstes dafür tun. Seine beiden Söhne studieren noch. Im Unternehmen arbeiten beide trotzdem bereits. Ob sie einmal übernehmen werden, weiß er nicht. „Sie müssen nicht. Jeder sollte da arbeiten können, wo er sich am glücklichsten schätzt.“

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